Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
du kommen wirst. Die Kirche glaubt, die Hölle sei ein Ort, wo man hinkommt, wenn man stirbt. Aber es gibt auch eine Hölle auf Erden. Und von dieser Hölle rede ich.« Devil erhob sich und baute sich drohend vor dem Jungen auf. Devil war groß und breitschultrig, wie sein Vater. Er wusste, dass er von seiner Statur her so ziemlich jeden einschüchtern konnte, wenn er wollte. Und er wollte meistens. »Ich habe meine eigene Hölle für Leute, die mich ärgern. Verstehst du, was ich meine? Eine Hölle voller Schmerzen. Für dich, für deinen kleinen Bruder, für deine kleine Schwester, für deine Mutter. Willst du deine kleine Schwester schreien hören, wenn wir ihre Hände in kochendes Wasser tauchen? Soll deine Mutter an Fußketten gefesselt meine Pisse aufwischen? Das ist die Hölle, die ich meine. Daran musst du denken, wenn du dich entscheidest, ob du deinen Gegner erledigen willst oder nicht. Hörst du? Das ist ein Kampf jeder gegen jeden. Da gibt es keine Überlebenden.«
Der Junge nickte schweigend. Er zittert zwar nicht, aber er weiß, wer der Boss ist, dachte Devil. Er würde tun, was man von ihm verlangte.
»Gut.« Devil zog ein Messer aus der Tasche und wischte es sorgfältig ab, wegen der Fingerabdrücke. Eines Tages würde er etwas Besseres haben als ein Messer. Bald würde die Dalston-Bande groß und stark genug sein, um es mit den Großen aufzunehmen, gegen sie zu kämpfen und zu gewinnen. Bald würde er den ganzen Londoner Osten kontrollieren, nicht nur dieses Scheißviertel. Jeder würde wissen, dass er der Boss war. Jeder würde Angst vor ihm haben. »Und hinterher versteckst du das gut für mich, ja? So lange, bis ich es wieder brauche. Du wirst es mir nicht zurückbringen. Und was machst du, wenn die Bullen kommen und nachschauen?«
»Ich weiß von nichts«, sagte der Junge und plapperte nach, was man ihm gesagt hatte.
»Und wenn sie dich anschwärzen? Wenn sie hinter dir her sind? Wenn die Polizei deine Mama mit auf die Wache nimmt und sie dich anfleht, die Wahrheit zu sagen, zu sagen, wo du das Messer herhast und wer dich zu der Tat angestiftet hat? «
»Ich sage ihnen, dass der Kerl mich gereizt hat und dass es ganz allein meine Idee war. Dass ich das Messer gefunden habe.« Die Stimme des Jungen wurde ruhiger, sein Blick verfinsterte sich.
Devil lächelte. Ein entwaffnendes Lächeln, das die Menschen glauben machte, er habe vielleicht doch menschliche Gefühle. Auf diese Weise kontrollierte er sie. Im einen Moment hatten sie Angst vor ihm und im nächsten Moment wollten sie ihm helfen und waren ihm treu ergeben. So mochte er das. Es hatte lange gedauert, bis er sich diese Position erobert hatte.
»Okay«, sagte er, »ich bin so weit fertig mit dir. Erledige deinen Job. Und dann steht ihr ein Leben lang unter dem Schutz der Dalston-Bande. Hast du verstanden? Du, deine Mutter, deine Schwester und dein kleiner Bruder. Alle werden sicher sein. Keine eingeschlagenen Fensterscheiben mehr, kein verschwundenes Geld, kein Feuer in eurer Wohnung. Klar?«
»Klar.«
Der Junge nahm das Messer und steckte es in seinen Hosenbund. Erst als er sich zum Gehen wandte, bemerkte Devil, dass die Hose des Jungen nass war. Im Schritt war ein großer dunkler Fleck zu erkennen. Einen Moment lang fühlte Devil sich irgendwie schuldig, und er fragte sich, wer er eigentlich war und was er war. Was aus ihm geworden war. Einen Augenblick lang sah er Leona vor sich, die ihn wütend anstarrte, und er verachtete sich selbst, so wie damals, als er sie wegen ihrer Zahnspange gehänselt hatte. Er schüttelte sich. Nein, er war nicht mehr derselbe wie damals. Er war jetzt Devil und er ließ sich nicht unterkriegen.
Er verdrängte den Gedanken an Leona und lächelte. Der Junge war doch nicht so tough, er hatte Angst, und er war anständig. Aber er würde tun, was man von ihm verlangte, solange Devil das wollte.
9
L ucas wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn und mit der anderen hielt er Clara umklammert. Er versuchte, die Blasen an seinen Füßen, die Schürfwunden an seinen Beinen und die Enge in seiner Brust zu ignorieren, doch es wurde immer schlimmer und drohte ihn zu übermannen. Lucas hatte das Gefühl, als wären er und Clara schon tagelang auf den Beinen, dabei waren es gerade mal vierundzwanzig Stunden, mit ein paar kurzen Ruhepausen dazwischen. In den letzten Stunden hatte er Clara getragen. Sie hatte sich zwar bemüht, mit ihm mitzuhalten, doch sie war immer wieder gestolpert vor Erschöpfung.
Weitere Kostenlose Bücher
Die vierte Zeugin Online Lesen
von
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg