Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
dir schon mal etwas Brot.«
Lucas begab sich in den Nebenraum. Dort standen mehrere Tische, aber alle waren verwaist. Martha folgte ihm, stellte ein Glas vor ihn auf den Tisch und legte ein Stück Brot daneben.
»Wo sind denn die anderen alle?«, fragte Lucas. Er hatte Linus so gern zugehört, wenn er von Base Camp erzählte, von den rund fünfzig Leuten, die dort lebten und arbeiteten, darunter Martha und Angel, Linus’ engste Vertraute. Lucas hatte oft davon geträumt, einmal selbst dort zu leben, unabhängig von der Stadt und von allem, was sie verkörperte.
Martha zögerte. »Die meisten Männer sind bei der Arbeit«, sagte sie schließlich. »Sie holen Nahrungsmittel und erledigen Reparaturen. Angel ist mit drei anderen auf Erkundungstour. Aber hier leben nicht mehr so viele wie früher.« Ihre Blicke trafen sich, und Martha lächelte traurig. »Ich nehme an, du hast nie erlebt, wie es vorher war, oder? Schade. Es hätte dir gefallen. Es war … aufregend.«
»Vorher?«, fragte Lucas neugierig.
»Bevor wir getan haben, was wir uns vorgenommen hatten, und unsere Daseinsberechtigung verloren haben«, erklärte Martha achselzuckend.
»Und jetzt ist es so, als hätte die Revolution stattgefunden, aber nichts hat sich verändert?«, fragte Lucas.
Martha verzog das Gesicht. »Es hat sich sehr wohl etwas verändert«, sagte sie mit einer Spur von Traurigkeit in der Stimme. »Nur nicht …« Sie schüttelte sich. »Hör nicht auf mich«, meinte sie und stand auf. »Ich hole dir deine Suppe.«
Nach ein paar Minuten kam sie mit einer dampfenden Suppenschale zurück, stellte sie vor Lucas auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber.
Im Nu hatte er alles aufgegessen.
»Noch mehr?«, fragte Martha mit einem Lächeln. Lucas nickte dankbar und kurz darauf stand eine zweite Schale vor ihm. Gierig aß er alles auf.
»Bekommt ihr in der Stadt nichts zu essen?«, fragte Martha mit einem leichten Augenzwinkern.
Lucas zog eine Augenbraue hoch. »Es gibt genug zu essen, aber das, was gerade in der Stadt vor sich geht, verdirbt einem den Appetit.« Es tat gut, es auszusprechen, auch wenn er dabei gequält lächelte. Lucas spürte, wie allein er sich in dem letzten Jahr gefühlt hatte, ohne Linus als Kommunikationspartner.
Martha legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Dann erzähl mal, was los war«, sagte sie und sah ihn dabei ernst an.
Lucas erzählte ihr alles so knapp wie möglich: von der Stadt, vom Bruder, der an der Macht festhielt, von dem Misstrauen der Bürger ihm gegenüber, von den Verschwundenen und von den Fliegen. Obwohl er sich bemühte, seine Gefühle im Zaum zu halten, als er ihr von dem Berg Leichen erzählte, den Rab und er entdeckt hatten, versagte ihm fast die Stimme, als er schilderte, in was für einem Zustand die Leichen der jungen Leute waren, die man entsorgt hatte wie Müll. Anschließend erzählte er ihr von Rab und von den Spitzeln. Martha hörte Lucas schweigend zu, nickte ein paarmal, zuckte manchmal zusammen und rang nach Luft. Dann streckte sie die Hand aus und legte sie auf seine.
»Und du? Wie geht es dir?«
Lucas runzelte die Stirn. »Mir geht es gut«, sagte er. Er wollte noch etwas anderes fragen, etwas, was er schon hatte fragen wollen, als er hier angekommen war, und worüber er seit seiner Entscheidung, hierherzukommen, nachgedacht hatte. Aber dann überlegte er es sich anders.
»Du willst bestimmt wissen, was Evie macht«, sagte Martha, als könnte sie seine Gedanken lesen.
Lucas wurde rot. »Sie ist bei Raffy und in Sicherheit«, erklärte Martha beruhigend.
Lucas nickte und lächelte. »Das ist gut«, sagte er schnell.
»Du musst bestimmt oft an sie denken«, meinte Martha und sah ihn dabei auf eine Weise an, die Lucas etwas verwirrte. »Du hast … Evie nahegestanden, nicht wahr? Ich weiß, dass sie dich sehr schätzt.«
Lucas nickte wieder. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und das Denken und Atmen fiel ihm auf einmal schwer. »Ja«, brachte er hervor. »Ich … ich habe sie auch sehr geschätzt. Ich schätze sie, meine ich. Ich –«
Lucas schloss einen Moment lang die Augen und versuchte, sich zusammenzureißen und das Gefühl der Einsamkeit zu vertreiben, das plötzlich wieder in ihm hochkam.
Martha machte ein mitfühlendes Gesicht. »Es ist bestimmt schwer, so allein zu sein.«
Lucas fing ihren Blick auf und errötete. »Ich war immer allein«, meinte er achselzuckend. »Das ist nichts Besonderes.«
Martha schien darüber nachzudenken.
Weitere Kostenlose Bücher