Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
Tage bringt Angel ihm Vorräte, zuletzt vor zwei Tagen. Es müsste also noch etwas Essbares da sein. Aber du solltest dich auf etwas gefasst machen. Das letzte Mal, als ich Linus gesehen habe, hatte er einen Bart.«
»Einen Bart?« Lucas rang sich ein Lächeln ab.
»Einen langen.« Martha grinste, wischte sich die Hände mit einer Serviette ab und ging zurück in die Küche.
10
Devil blickte auf die ausgestreckte Hand vor ihm und schüttelte den Kopf. »Nö!«
Seine Jungs boten ihm ständig ihre Joints an, aber er lehnte jedes Mal ab. Gras machte die Menschen schwach und a-pa-thisch. Devil grinste in sich hinein. »Apathisch« war sein neuestes Wort. Es gefiel ihm, jeden Tag ein neues Wort zu benutzen. Das hielt seinen Verstand auf Trab. Und »apathisch« war eines der besten, die er bislang entdeckt hatte. Nach Devils Meinung waren die meisten Menschen apathisch. Zumindest in dieser Gegend. Keiner tat irgendetwas. Keiner außer ihm.
Er sprang von der Mauer, und sofort folgten die anderen seinem Beispiel, aber er scheuchte sie mit einer Handbewegung zurück. »Ihr bleibt hier«, befahl er. Sie waren an ihrem üblichen Treffpunkt mitten in der Siedlung, auf der Treppe, die zum Spielplatz führte. Der Spielplatz war nicht so, wie er sein sollte. Die Schaukeln und ein schäbiges Karussell standen still; nur Devil und seine Jungs setzten sich gelegentlich darauf und fuhren eine Runde damit und lachten lauthals, aber Kinder kamen nicht mehr hierher. Keiner wagte den Spielplatz zu betreten, es sei denn, Devil hatte es ausdrücklich erlaubt. Der Spielplatz gehörte jetzt ihm. Dreckloch oder nicht, das wollte immer noch etwas heißen.
Devil marschierte mit leicht gebeugten Knien los, sein Kopf wippte beim Gehen, als würde er tanzen. Er war stolz auf seinen Gang, und er hatte lange gebraucht, um ihn zu perfektionieren. Als er hierherkam, war er gegangen wie ein ganz normaler Junge. Spießig. Er war dahingetrottet und hatte herumgetrödelt wie früher auf dem Schulweg mit Leona.
Mittlerweile erkannten ihn die Leute schon aus einiger Entfernung an seinem unverwechselbaren Gang. Und sie wussten sofort, wenn er da war, auch ohne dass er den Mund aufmachte. Das ist alles eine Frage der Präsenz, hatte sein Vater ihm einmal gesagt. Sorge dafür, dass die Leute wissen, wer du bist und was du bist. Wenn du in der Menge untergehst, gibt es keinen Grund, warum man dich beachten sollte. Wenn du jemand sein willst, musst du als jemand angesehen werden. Du musst dafür sorgen, dass man von dir Notiz nimmt.
Devils Vater hatte das schon vor langer Zeit herausgefunden. Man konnte nicht mit ihm die Straße entlanggehen, ohne dass die Leute auf ihn zugerannt kamen, seinen Namen riefen und ihm zuwinkten. Die Leute liebten Pastor Jones. Sie brauchten ihn und sie verehrten ihn.
Ja, sein Vater wusste, was er tat. Er wusste, wie man es besser machte.
Und Devil wusste es auch – er hatte gleich am ersten Tag nach seiner Ankunft in der Siedlung erkannt, dass sich etwas ändern musste. Wenn er überleben wollte, musste er die Kontrolle übernehmen. Er hatte sich im Spiegel betrachtet und eine Verwandlung vollzogen. Den Jungen aus der Mittelschicht, für den schwarz bloß die Farbe seiner Haut war und der die Schultern hochzog, damit seine kräftige Statur niemandem Angst einjagte, den gab es nicht mehr. Stattdessen war Devil geboren: groß, breitschultrig, unverschämt, arrogant, zornig. Einer, vor dem die Menschen Angst hatten und mit dem sie sich nicht anlegen wollten.
Devil lief durch die Unterführung zwischen den beiden Hochhäusern, in deren Nähe sich nach Einbruch der Dunkelheit niemand wagte, außer den Junkies und den Schlampen, Menschen, denen alles egal war, die keinerlei Selbstachtung mehr hatten. Devil hatte auch keine Achtung vor ihnen. Er hatte vor niemandem Respekt, außer vor sich selbst. Sogar seine Bande war wie eine Herde Schafe, die ihrem Schäfer auf Schritt und Tritt folgte. Die Jungs hatten nicht den Mut, etwas selbst in die Hand zu nehmen.
Sie waren nicht wie er. Devil zuckte schon bei dem Geruch von Urin, Exkrementen, billigem Fusel und schmutzigen Klamotten zusammen. Als er zum ersten Mal durch die Unterführung ging, hätte er sich beinahe selbst angepinkelt. Er war vorher noch nie an einem solchen Ort gewesen; bis dahin kannte er nur die grüne Vorstadt in Hertfordshire, wo alle in hübschen neuen Häusern mit Garten wohnten, vor denen Autos parkten, und wo alle ihn kannten, ihm zulächelten und ihm
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