Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
dachte, was Linus ihr über die Bösen erzählt hatte, die außerhalb der Stadt unter furchtbaren Bedingungen Nahrung für deren Bürger produzierten. Im Gegensatz zu den Bauern in der Siedlung wurden sie so schlecht behandelt, dass es Evie bei dem bloßen Gedanken kalt über den Rücken lief. Meistens jedoch versuchte sie, nicht an die Stadt zu denken, sondern nur an das Hier und Jetzt, an die Siedlung und an ihre Zukunft.
Das Problem war nur, dass es sie auch dabei manchmal schauderte.
Evie arbeitete gern hier. In der Stadt hatte sie Nähen gehasst und sich bei jeder Gelegenheit davor gedrückt. Das lag daran, dass es die Arbeit ihrer Mutter war. Der Mutter, die gar nicht ihre Mutter war, die sie ihren richtigen Eltern weggenommen und es versäumt hatte, ihr dafür Liebe zu geben. Jetzt genoss Evie die Kameradschaft unter den Kolleginnen, denn es waren nur Frauen in der Näherei beschäftigt. »Nicht, weil Männer nicht nähen können«, hatte Benjamin ihr mit einem Augenzwinkern erklärt. »Aber ich habe noch keinen Mann gefunden, der mutig genug gewesen wäre, sich an einer Unterhaltung zu beteiligen.«
Und die Gespräche waren für Evie eine Offenbarung gewesen. Die Frauen unterhielten sich bei der Arbeit, tauschten Geheimnisse aus, erzählten sich Geschichten aus ihrer Vergangenheit, sprachen über ihre Träume von der Zukunft, neckten einander und halfen sich gegenseitig. Hier war alles ganz anders als in der Stadt, wo die Menschen schweigend ihrer Arbeit nachgingen und wo man seine gesellschaftliche Stellung und seinen Rang gefährdete, wenn man sich jemandem anvertraute.
Hier tratschten die Frauen über andere, was meist nicht böse gemeint war. Evie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Menschen in der Siedlung niemanden verurteilten, verachteten oder fürchteten. Vielmehr suchten sie nach Dingen, die sie mit anderen gemeinsam hatten, nach gemeinsamen Werten und Hoffnungen. Und das war Benjamins Verdienst. Denn Benjamin hatte ihr beigebracht, dass Liebe stets die Angst besiegte und dass Frieden weit stärker war als Gewalt. Evie liebte die freundliche Atmosphäre in der Näherei, das Surren der Maschinen, das durch die dünnen Wände drang, und das schallende Gelächter, das von Zeit zu Zeit ihre Gespräche unterbrach.
Heute jedoch wurde nur über ein Thema gesprochen: die Begrüßungszeremonie. Der Tag der Aufnahme in die Gemeinschaft, der gleichzeitig Evies Hochzeitstag sein sollte. Das Kleid, das sie an diesem Tag und künftig bei allen Feierlichkeiten tragen würde, bis sie schwanger wurde. Nach der Geburt würde sie ein neues Kleid bekommen zum Zeichen, dass nun ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte.
»Dein Kleid ist fast fertig«, sagte Sandra, eine der älteren Frauen, lächelnd. »Du wirst darin sehr hübsch aussehen.«
Evie errötete. »Es ist schon fertig?« Sie versuchte, das seltsame Gefühl in der Magengrube nicht zu beachten. »Hoffentlich hat es nicht zu viel Zeit gebraucht.«
»Nein, das ging ruck, zuck. Meine Tochter braucht ihr Kleid nicht mehr, weil sie jetzt ein Baby hat. Ich habe nur noch ein paar Schleifen drangenäht und es ein bisschen enger gemacht. Für jemanden, der in der Stadt gelebt hat, hast du nicht viel auf den Rippen.« Diese spitzzüngige, kritische Bemerkung wäre für eine Frau aus der Stadt typisch gewesen. Aber Sandra lächelte nachsichtig bei ihren Worten und Evie ließ sich wie immer von der Wärme im Raum einhüllen. »Hier, probier mal an«, meinte Sandra und reichte Evie das Kleid.
Evie betrachtete es und versuchte sich vorzustellen, wie sie darin voller Glück ihr Eheversprechen gab. Dann legte sie es wieder weg. »Vielleicht probiere ich es in der Mittagspause an«, stammelte sie. »Ich möchte nicht während der Arbeitszeit essen.«
Sandra zuckte die Schultern. »Für jemanden, der im Überfluss aufgewachsen ist, hast du allerdings eine erstaunliche Arbeitsmoral«, sagte sie lächelnd.
»Und wie geht es dem Baby?«, erkundigte sich Kathy, eine andere Frau, zu Evies Erleichterung plötzlich bei Sandra.
Sandra strahlte vor Freude. »Einfach wunderbar. Ein ganz entzückender kleiner Kerl«, sprudelte es aus ihr heraus, und die anderen Frauen ließen gurrende Laute vernehmen.
»Wie alt ist der Kleine jetzt? Neun Monate? Dann dauert es ja nicht mehr lange bis zu seiner Willkommensfeier«, meinte Kathy kopfschüttelnd und stieß einen lauten Seufzer aus. »Wie die Zeit vergeht, nicht wahr?«
»Ach ja«, stimmte Sandra zu, legte einen Arbeitshandschuh
Weitere Kostenlose Bücher