Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
weg und begann den nächsten zu stopfen.
Obwohl Babys in der Siedlung nichts Besonderes waren, löste die Geburt eines Kindes immer noch große Aufregung und Freude aus. Jedes Kind wurde möglichst bald nach dem ersten Geburtstag offiziell in der Siedlung willkommen geheißen. Die Begrüßungszeremonie wurde abgehalten, um die Kinder – sowie alle neuen Kandidaten – an die Siedlung zu binden. Jedes Jahr fanden zwei Zeremonien statt. Evie und Raffy hatten bereits als Zuschauer an einer Zeremonie teilgenommen, da Neuankömmlinge ein Jahr warten mussten, bevor eine formelle Aufnahme möglich war. Trotzdem hatte Evie bei der Feier weinen müssen, weil sie so voller Hoffnung, voller Liebe gewesen war, ganz anders als in der Stadt, wo Fremde gefürchtet wurden, wo Kinder als minderwertige Wesen galten, die von ihrer angeborenen Bösartigkeit befreit, der Neutaufe unterzogen und anschließend zu guten Bürgern gemacht werden mussten.
»Also«, meldete sich plötzlich Lucy, eine andere Frau, zu Wort. »Was meint ihr, wann es regnet? Hoffentlich bald.«
Seit zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Das war zwar noch kein Grund, sich ernsthaft Sorgen zu machen, aber als Gesprächsstoff eignete sich das Wetter allemal. Kein Regen hieß Ernteausfall, und Ernteausfall hieß, dass die Menschen in der Siedlung Hunger leiden mussten. Die Siedlung lag am Fluss Humber, aber das Flussbett war schon vor Jahren ausgetrocknet. Daher war die Siedlung auf Regenwasser angewiesen, das in großen Reservoirs gesammelt wurde. Und der Vorrat an Regenwasser musste regelmäßig aufgefüllt werden.
»Es wird schon noch regnen«, sagte Sandra sofort. Sie war sozusagen die Mutter der Gruppe und hatte immer beruhigende und weise Worte parat.
»Das sagt sich so leicht«, entgegnete Lucy. »Aber was, wenn nicht?«
»Es wird schon regnen«, sagte Sandra bestimmt. »Wir sollten uns keine allzu großen Sorgen machen. Hat Benjamin uns nicht gewarnt, dass lautes Jammern die Gedanken anstecken kann? Sollten wir nicht positive und hoffnungsvolle Gedanken verbreiten?«
»Das ist ja alles schön und gut, aber wir wissen doch genau, dass wir nicht so abhängig vom Regen wären, wenn das Wasser nicht in die Stadt geleitet werden würde.«
Obwohl dieser Vorwurf weit hergeholt war und Benjamin ihm regelmäßig widersprach, hielten die Menschen an der Behauptung fest, weil sie so einen Sündenbock hatten, gegen den sie ihren ganzen Zorn und Groll richten konnten, wenn der Regen ausblieb. Doch wie bei den meisten Gerüchten war auch an dieser Geschichte etwas Wahres dran: Die Stadt hatte mehrere Dämme errichten lassen, um den eigenen Wasservorrat zu erhöhen, und die umliegenden Siedlungen einfach von dem lebensnotwendigen Wasser abgeschnitten.
Evie wurde rot, wie immer, wenn ihr früheres Zuhause erwähnt wurde, als ob sie in irgendeiner Weise dafür verantwortlich wäre. Bis sie in die Siedlung gekommen war, hatte sie nichts von den Dämmen gewusst, sie hatte keine Ahnung gehabt, dass die Stadt so skrupellos war, nur auf das Wohl ihrer Bürger bedacht. Sie wusste, dass die Menschen in der Stadt leben wollten, aber es hatte immer geheißen, sie suchten nach Erlösung, nach einer Möglichkeit, in einer Welt ohne das Böse zu leben. In Wahrheit hatte die Stadt dafür gesorgt, dass in allen anderen Siedlungen im Land die Vorräte knapp waren.
»Lucy«, sagte Sandra mit drohendem Unterton.
»Was ist? Es stimmt doch, oder?«, entgegnete Lucy trotzig.
Es dauerte eine Weile, bis die Frauen, die auf Holzstühlen im Halbkreis saßen, das eben Gehörte verdaut hatten.
»Sie dürften nicht ungestraft davonkommen«, stimmte Carlotta, eine kleine, stämmige Frau mit dunklen Haaren und dunklen Augen, schließlich zu. »Wer gibt ihnen das Recht, jeden Fluss zu stauen? Wer?«
Lucy nickte energisch. »Genau. Benjamin sollte irgendetwas tun. Es ist ja gut und schön, wenn man ein Volk des Friedens ist, aber wenn man uns bestiehlt –«
»Schluss jetzt«, sagte Sandra und erhob sich. Sie sah sich im Kreis um. »Bist du hier etwa nicht glücklich?«, fragte sie Lucy. »Möchtest du lieber woanders leben?«
Lucy schüttelte den Kopf.
»Und hältst du Benjamin für einen guten Anführer, der sich bisher um uns gekümmert und alles getan hat, damit es uns gut geht?«
Lucy nickte und blickte zu Boden.
»Gut«, sagte Sandra und setzte sich wieder. »Sprich in diesem Raum nie wieder so über ihn, hörst du? Und mach Evie keine Angst. Es geht uns gut. Es wird regnen.
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