Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
Okay?«
Noch während sie sprach, verdunkelte sich der Himmel, und ein plötzlicher Donnerschlag ließ alle hochfahren. Kurz darauf prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben. Sandra lächelte triumphierend.
»Netter Trick«, meinte Kathy kichernd. »Du hast gewusst, dass es gleich regnen würde, oder?«
Sandra zuckte die Achseln und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Vielleicht habe ich ja heute Morgen ein paar dunkle Wolken am Himmel entdeckt«, meinte sie leichthin.
Eine Weile widmeten sich die Frauen schweigend ihrer Näharbeit. Dann sah Kathy zu Evie hinüber. »Wahrscheinlich musstest du dir in der Stadt nie Gedanken darüber machen, dass du nicht genug zu essen hast, oder?«
Evie schüttelte vorsichtig den Kopf. Die Menschen in der Stadt mussten nicht hungern, das stimmte, aber das hieß nicht, dass sie glücklich waren. »Nein«, sagte sie leise. »Aber ich bin lieber hier und bin hungrig als dort mit Essen im Überfluss.«
Kathy verzog neugierig das Gesicht. »War es dort wirklich so schlimm?«, fragte sie. »Denkst du nicht manchmal daran, ob du zurückgehen sollst?«
Evie schüttelte energisch den Kopf. Sie hatte ihren Kolleginnen bereits von den Rängen erzählt, von den strengen Regeln, mit wem man sprechen und mit wem man sich anfreunden durfte, von dem System und von den Ks, die vor der Stadtmauer ausgesetzt wurden, damit die Bösen sie töteten. Aber viele ihrer neuen Freunde konnten das kaum glauben; sie hatten immer nur von der Stadt des Überflusses, der Guten und der Glücklichen gehört, und Evie merkte ihnen an, dass sie manchmal am Wahrheitsgehalt ihrer Geschichten zweifelten.
»Ich will nie mehr zurück«, sagte sie gefasst. »In der Stadt gab es zwar Essen, Wasser und Unterkunft für alle, aber dort wurde auch ständig gelogen, die Menschen wurden von einem System ungerechterweise in Ränge eingeteilt, man hat ihnen eingeredet, sie hätten eine Zukunft, aber stattdessen wurden sie einer Gehirnoperation unterzogen, die ihr Leben zerstörte. Ich will nie wieder dorthin zurück.«
»Du würdest tatsächlich lieber verhungern?«, fragte Lucy und hob demonstrativ die Augenbrauen.
»Lucy, niemand hier verhungert. Es regnet doch, oder? Lass das Mädchen in Ruhe«, meinte Sandra leicht angespannt.
Lucy schnaubte missbilligend.
»Akzeptanz, Liebe, Lernen und Hoffnung«, sagte Sandra leise. »Das ist alles, was hier zählt. Bitte, Evie, hör nicht auf Lucy. Sie hat heute einfach keinen guten Tag. Stimmt‘s, Lucy? Wahrscheinlich ist sie zu spät zum Frühstück gekommen. Vielleicht hätte sie lieber im Bett bleiben sollen und jetzt bereut sie es. Oder?«
Lucy wollte schon protestieren, meinte dann aber lachend: »Okay, erwischt.«
»Wenn mich nicht alles täuscht, ist es schon fast Mittag«, sagte Sandra. »Evie, sollen wir dir nicht bei der Anprobe helfen? Wir wollen doch sehen, wie hübsch du in deinem Kleid aussiehst.«
12
» H ey, Wajid. Wie geht’s?« Wajid starrte Thomas frech an und sah dann zu dem Gefängniswärter hinüber. »Beschissen«, sagte er. »Aber was geht dich das an?«
Wajid war ein angenommener Name, den man ihm gegeben hatte, nachdem er Erlösung gefunden hatte, nachdem er im Gefängnis über eine Gruppe Jungs gestolpert war, die ihm zugehört, ihn verstanden und ihn beschützt hatten. Das war jetzt zehn Jahre her. Seitdem war er vier Mal im Gefängnis gewesen.
Aber diesmal würde er nicht wegen guter Führung vorzeitig entlassen werden. Diesmal würde er hier drin verrotten, und er brauchte keinen Fremden, der hier aufkreuzte und ihn verhöhnte.
Thomas lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Es geht mich deshalb was an, Wajid, weil ich nicht glücklich darüber bin, wie du hier behandelt wirst. Und ich bin auch nicht glücklich über die Dauer deiner Strafe.«
»Meiner Strafe?« Wajid beugte sich mit funkelnden Augen zu Thomas vor. »Was weißt du über mich und meine Strafe? Wer zum Teufel bist du überhaupt?«
Eine Weile hielt er Thomas’ Blick stand, dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und musterte ihn eingehend. Dieser seltsame Mann, der aussah wie ein Freak, der aber teure Klamotten trug, hatte ihn schon drei Mal besucht. Beim dritten Mal hatte er Wajid dumme, sinnlose Fragen gestellt, bevor er aufstand und wieder ging. So als wäre Wajid eine Art billige Unterhaltung für ihn, so etwas wie eine Witzfigur. Er hatte auch nie seinen Nachnamen genannt, sondern sich nur als »Thomas« vorgestellt, als wäre er ein Freund oder so
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