Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
endlich wieder atmen.
Hier konnte er einfach nur sein.
Raffy hörte die Glocke, setzte sich auf und stützte sich mit der Hand auf dem Boden ab, um wieder aufzustehen. Plötzlich hielt er inne, weil jemand dicht neben ihm stand, jemand, den er noch nie gesehen hatte. Er starrte den Fremden an, sein Puls raste. Es war niemand sonst in der Nähe; die Männer verbrachten ihre Mittagspause in der Regel auf der Baustelle, wo neue Häuser und neue Klassenzimmer entstehen sollten. Die Baustelle befand sich ganz in der Nähe der Felder. Nun, nachdem die Glocke das Ende der Mittagspause angezeigt hatte, würden die Bauarbeiter wieder auf die Dächer klettern und sich an die Betonmischer begeben, während die Bauern wieder aufs Feld gingen. Nur Raffy war zum Essen hierhergekommen, fünf Gehminuten von der Baustelle entfernt, wo er im Gras liegen und den Geruch von Freiheit genießen konnte.
»Nette Häuser entstehen da. Du musst begeistert sein«, meinte der Mann.
Raffy schwieg und starrte den Mann argwöhnisch an. Er kannte ihn nicht, und der Mann hatte etwas an sich, was ihn misstrauisch machte.
Der Mann lächelte. »Tut mir leid, du kennst mich nicht. Ich bin ein Freund von Benjamin. Dieser Ort ist sehr beeindruckend.«
Raffy verengte die Augen. Niemand hatte etwas von einem Besuch erwähnt. »Sie kennen Benjamin?«
»Schon lange«, erwiderte der Mann. »Und du bist also Raffy, hm?«
Raffy blickte ihn streng an.
Der Mann lachte. »Du bist vorsichtig, was? Keine Sorge. Ich auch. Das ist auch richtig so. Vor allem in deiner Lage.«
»In meiner Lage?«
»Na, du weißt schon. Wenn man aus der Stadt kommt und Lucas zum Bruder hat«, meinte der Mann achselzuckend. Er hatte ein verkniffenes Gesicht, kleine Augen und ein schwach ausgeprägtes Kinn. Raffy mochte ihn nicht. Er könnte ihn in Sekundenschnelle überwältigen.
Aber dann musste Raffy an Benjamin denken. Gewalt gehörte nicht zu den Grundwerten der Siedlung. Deshalb riss er sich zusammen und war auf der Hut. »Wer sind Sie?«, sagte er und ging drohend auf den Mann zu. »Was wollen Sie?«
»Ich? Gar nichts. Nur …« Der Mann neigte den Kopf zur Seite. »Ich habe Freunde hier. Ich bin nicht offiziell hier … Du musst also nicht jedem von mir erzählen. Aber, wie gesagt, ich habe Freunde. Freunde, die … sich Sorgen um dich machen. Sie wollten es dir nicht direkt ins Gesicht sagen für den Fall, dass du es ihnen übel nimmst. Deshalb habe ich mich dazu bereit erklärt. Mir macht das nichts aus.«
»Freunde? Was sind das für Freunde?«, fragte Raffy und suchte den Horizont ab, um herauszufinden, ob die Arbeiter auf der Baustelle seine Rufe hören würden. Aber ihm wurde sofort klar, dass sie zu weit weg waren.
Der Mann warf ihm einen unbehaglichen Blick zu. »Das kann ich dir wirklich nicht sagen«, meinte er. »Aber wie ich sehe, bist du beschäftigt. Das ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt. Nur … die Nachricht hat etwas mit einer Uhr zu tun. Mit einer goldenen Uhr. Anscheinend hat sie sie wieder. Ich weiß nicht, was das bedeutet und ob dir das etwas sagt. Ich sollte es dir nur ausrichten und das habe ich hiermit getan. Wenn es dir recht ist, mache ich mich jetzt wieder auf den Weg. Und, äh, mach so weiter. Das war die andere Nachricht.«
Der Mann ging davon. Raffy starrte ihm nach. Er sollte nicht auf ihn hören und sich nicht um dessen Worte kümmern, sagte er sich. Alle möglichen Gedanken schossen ihm durch den Kopf und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die Uhr? Meinte er Lucas’ Uhr? Was meinte er mit »sie hat sie wieder«? Er musste es unbedingt wissen und rannte los. »Wer sind Sie?«, fragte er noch einmal, als er den Fremden eingeholt hatte. »Für wen sollten Sie diese Nachricht überbringen?«
Der Mann zuckte die Achseln. »Das kann ich dir leider nicht sagen. Ich habe mein Wort gegeben.«
Raffy sah ihn wütend an. »Wo kommen Sie her? Wieso haben Sie hier Freunde, wenn Sie gar nicht hier leben?«
Der Mann lächelte verlegen und blickte zu Boden. »Man muss in die Siedlung aufgenommen werden, nicht wahr? Ich hab es versucht, aber ich wurde für ungeeignet erachtet. Ich war leider zu faul. Nicht so wie du. Aber, wie gesagt, ich habe Freunde, die mich von Zeit zu Zeit mit Essen versorgen. Also bis demnächst. Und pass auf deine Freundin auf, ja?«
»Raffy?« Raffy drehte sich um und sah Simon auf sich zukommen. »Raffy, was machst du denn hier? Du bist spät dran.«
»Tut mir leid«, sagte Raffy sofort. Er drehte sich nach dem
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