Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
gab es drei Sicherheitsstufen und offenbar hatten nur fünf Leute Zutritt. In diesem Gebäude waren sicher Informationen zu finden und dort wollte Linus als Erstes hin. Wenn er es schaffte, in das Gebäude zu gelangen, würde er bestimmt die Antworten auf seine Fragen finden. Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass er in das Netzwerk eindringen und ein paar tickende Zeitbomben einbauen konnte, die später zum Einsatz kommen sollten.
Linus beobachtete und wartete. Als einer von den fünf Leuten mit Zugang zu dem grauen Gebäude um die Ecke bog, wie er es in den vergangenen zwei Tagen nach dem Mittagessen immer getan hatte, kam Linus vorsichtig aus seinem Versteck. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier, dachte Linus, während er den Mann überwältigte, zu dem Platz schleifte, den er am ersten Abend entdeckt hatte, ihm die Kleider auszog und ihn fesselte. »Die kann ich gut gebrauchen«, sagte er im Plauderton, als er in die Uniform des Mannes schlüpfte. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«
Der Mann konnte nicht antworten, weil Linus ihn geknebelt hatte. Linus betrachtete ihn eine Weile und zuckte dann die Achseln. Der Mann würde bald wieder okay sein; Linus würde ihn später freilassen. Und wenn nicht, würde jemand anders ihn finden.
Linus warf einen Blick auf den Weg, um sicherzugehen, dass niemand ihn sah. Dann kam er wieder aus seinem Versteck hervor und schlenderte zu dem grauen Gebäude.
25
R affy klopfte das Herz bis zum Hals. Er hatte nur fünf Minuten, dann wäre Evie wieder zurück. Er hatte überall nachgesehen: zwischen ihren Kleidern, unter dem Bett, ganz hinten in den Schränken. Aber die Uhr war nicht da, natürlich nicht. Trotzdem musste Raffy weitersuchen. Denn der Mann hatte von der Uhr gewusst, und wie hätte er so etwas erfinden sollen? Er wäre ja zum Bäcker gegangen, aber wenn es nicht stimmte und Evie herausfand … Nein, es war besser, einfach zu suchen, um sich zu vergewissern.
Denn Evie hätte sich die Uhr nicht zurückgeholt.
Niemals.
Ausgeschlossen.
Oder doch?
Lucas’ Uhr. Raffy schloss einen Moment die Augen und versuchte, die Welle von Hass und Wut zu unterdrücken, die allein schon der Name »Lucas« in ihm auslöste, die Verbitterung und die Enttäuschung, die sein bisheriges Leben bestimmt hatten. Obwohl Lucas inzwischen weit weg war, wurde Raffy immer noch von seinem Schatten verfolgt, und er empfand Lucas’ bloße Existenz als einen Angriff auf ihn, um ihn zu unterdrücken und zu schwächen, so wie Lucas es immer getan hatte.
Wenigstens war es früher noch erträglich gewesen, wenigstens war Raffys schäumende Wut früher berechtigt gewesen. Auch wenn Lucas nach Meinung der übrigen Bewohner der Stadt perfekt war, Raffy kannte das Böse, das in ihm lauerte, die Kaltherzigkeit, mit der er den eigenen Vater verraten hatte. Damals war alles noch kontrollierbar gewesen. Raffy hatte gewusst, wer Lucas war und was er war, und dieses Wissen hatte ihn stark gemacht, sodass er den Hass und das Misstrauen der Leute ertragen konnte. Er wollte gar nicht, dass sie ihn mochten, nicht, wenn sie Lucas mochten.
Es hatte nur einen einzigen Menschen gegeben, der ihn mochte und nicht seinen Bruder. Und das hatte Raffy genügt. Denn dieser Mensch war Evie gewesen. Evie, die mit Lucas verlobt war, zog die Gesellschaft von Raffy vor und riskierte Kopf und Kragen, wenn sie sich nachts aus dem Haus schlich, um sich mit ihm zu treffen.
Das allein hatte das Leben lebenswert gemacht. Das allein hatte Raffy klargemacht, dass die Stadtbewohner denken konnten, was sie wollten; dass er und Evie im Recht waren, und nur das zählte.
Und dann … dann war alles um ihn herum in die Brüche gegangen. Es stellte sich heraus, dass Lucas die Wahrheit all die Jahre für sich behalten hatte, dass Lucas ein Held war. Lucas hatte ihren Vater nicht verraten; ihr Vater hatte Lucas vertraut, hatte ihm das Versprechen abgenommen, die Familie, ihn, Raffy, zu beschützen. Wegen dieses Versprechens hatte Lucas all die Jahre gelitten.
Und wegen dieses Versprechens konnte Raffy seinem Bruder nicht verzeihen. Denn jetzt hatte er nichts mehr. Jetzt war er nicht mehr stark, jetzt war er schwach. Jetzt war er nicht mehr gut, jetzt war er böse: der zornige junge Mann, der keinen Grund mehr hatte, zornig zu sein. Außer darauf, dass Lucas Evie ausgerechnet an dem Abend geküsst hatte, als er, Raffy, sie losgeschickt hatte, damit sie ihm bei der Flucht aus der Stadt half. Er hatte Evie die Wahrheit gesagt, hatte
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