Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
den Handwerkern, die Möbel für die ständig wachsende Bevölkerung herstellten, vorbei an den Bäckern, vorbei an der grasbedeckten Anhöhe, wo kleine Kinder spielten. Auf einmal blieb er stehen, denn aus der Näherei kam ein neues Mitglied der Siedlung in einem langen weißen Kleid, das ungefähr drei Nummern zu groß war. Benjamin lächelte, als er die Frauen um das junge Mädchen herumtänzeln sah und wie Sandra das Kleid hier und da absteckte, damit es Evie mit ihrer zierlichen Figur passte.
Als Evie aufblickte und ihn sah, musste Benjamin seine Tagträume unterbrechen. Er ging auf sie zu und meinte: »Evie, du wirst eine wunderschöne Braut abgeben. Und eine wundervolle Bürgerin.«
Evie lächelte, aber Benjamin bemerkte, dass ihr Lächeln nicht von Herzen kam.
»Danke«, sagte sie und wandte sich dann an Sandra. »Ich sollte es jetzt ausziehen.«
»Noch nicht«, schimpfte Sandra. »Ich muss es noch fertig abstecken. Du wirst immer dünner, Evie. Und du hast dich nicht genug gedreht. Wir wollen, dass du dich noch ein paarmal drehst, nicht wahr, Mädels?«
Die Frauen lachten und feuerten Evie an, und Evie drehte sich noch zweimal. Aber Benjamin fiel auf, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war.
»Ich mache euch einen Vorschlag«, sagte er. »Du steckst das Kleid fertig ab, Sandra, und anschließend gehen Evie und ich zum Mittagessen. Wie klingt das?«
Sandra nickte kurz und steckte in aller Eile das Kleid ab, bevor sie Evie in die Näherei zurückscheuchte. Sekunden später erschien Evie in ihrer normalen Kleidung und sah mit ernstem Gesicht zu Benjamin auf. So war das bei Benjamin; er machte einen Vorschlag, und noch bevor er darüber nachgedacht hatte, ob er gut war, war er auch schon ausgeführt. So etwas konnte einem schon zu Kopf steigen und einen berauschen. Benjamin wusste das nur allzu gut. Aber ihm war auch bewusst, dass die Macht, die er hatte, auch eine große Verpflichtung gegenüber den Menschen war. Sie waren keine Schafe, die ihm bedingungslos folgten, sondern er diente ihnen, denn ihnen hatte er alles zu verdanken.
Evie sah zu ihm auf und die Angst war ihr ins Gesicht geschrieben. Benjamin lächelte. »Also, gehen wir? Heute ist so ein herrlicher Tag, findest du nicht auch?«
»Ja, herrlich«, stimmte Evie zu.
»Und bald wirst du ein Mitglied unserer Gemeinschaft sein. Macht dich das glücklich, Evie?«
Sie nickte eifrig. »Sehr glücklich«, sagte sie. Ihre Augen sahen überanstrengt aus.
»Aber trotzdem hast du Angst. Hat deine Angst mit diesem Ort zu tun, oder geht es eher um die Liebe, um deine persönliche Verpflichtung?«
Als er sah, wie Evies Blick sich verfinsterte, wusste er sofort, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
»Ich habe keine Angst«, sagte Evie rasch. »Ich bin hier so glücklich, Benjamin. Ich habe wirklich Glück gehabt und ich weiß das. Wir beide wissen das. Raffy tut es wirklich aufrichtig leid, was er getan hat. Und im Grunde war es wohl meine Schuld. Nehmen Sie es ihm bitte nicht übel. Neil meinte, es ist okay. Er hat es verstanden. Bitte, denken Sie nicht, Raffy … Er meint es nicht so. Er versucht nur …« Evie verstummte, und Benjamin erkannte den Zwiespalt, in dem sie steckte: Einerseits wollte sie ihn schützen, und andererseits war sie enttäuscht von ihm.
Benjamin nickte bedächtig. Dann blieb er stehen und sofort hielt auch Evie inne.
»Die Liebe ist eine komplizierte Angelegenheit«, sagte er. »Wir können auf ganz verschiedene Weise lieben. Wir können unser Land lieben, unsere Eltern. Wir können uns verlieben und wieder trennen.« Er holte tief Luft. »Aber die Liebe sollte uns nie Angst machen oder uns erdrücken. Wir sind nicht verantwortlich füreinander, verstehst du?«
Evie biss sich auf die Lippen. »Ich … ich glaube schon. Aber ich liebe Raffy. Ich liebe ihn wirklich.«
Benjamin lächelte. »Gut. Und keine Angst wegen der Hochzeit. Ich glaube, jeder hat Lampenfieber in so einer Situation. Ah, da ist ja Raffy. Na, auch schon nervös vor dem großen Tag?«
Evie fuhr herum. Sie hatte nicht bemerkt, dass Raffy auf sie zukam. »Nervös? Überhaupt nicht«, sagte Raffy sofort, und seine Stimme klang etwas gereizt. »Ich wünschte, die Hochzeit wäre schon heute. Und Evie auch. Nicht wahr, Evie?«
Raffy sah sie forschend an, und Evie nickte. »Natürlich«, sagte sie. »Natürlich.«
»Schön.« Benjamin lächelte und warf noch einmal einen Blick auf Evie. Dann machte er sich auf den Heimweg. Bestimmt stand das Essen
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