Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
schon auf dem Schreibtisch, wie jeden Mittag. Doch unterwegs entdeckte er etwas, was er viele Jahre nicht mehr gesehen hatte und von dem er nicht gedacht hätte, dass er es jemals wiedersehen würde. Das Mittagessen musste warten. Es konnte zufällig hierhergekommen sein, vielleicht hatte der Wind es hierher geweht. Aber Benjamin wusste, dass es nicht so war. Es war alt, schmutzig und hatte mehrere Löcher. Bei dem Stofffetzen, der da vor ihm auf dem Weg lag, handelte es sich zweifellos um ein rotes seidenes Taschentuch. Und das konnte nur eines bedeuten.
»Was hat er zu dir gesagt?«, fuhr Raffy Evie an, kaum dass Benjamin außer Hörweite war, und packte sie am Handgelenk.
Evie sah ihn misstrauisch an. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Nach dem Vorfall mit Neil hatte es so ausgesehen, als täte ihm die ganze Sache aufrichtig leid und als hätte er tatsächlich vor, sich zu ändern. Ein paar Tage lang war er ein ganz anderer Mensch gewesen – vielleicht etwas zu sehr auf die Arbeit konzentriert, aber ungezwungen im Umgang mit ihr, hilfsbereit, fröhlich; keine wütenden Blicke, wenn sie sich mit anderen Leuten unterhielt, keine vorwurfsvollen Blicke, wenn sie abends vom Unterricht nach Hause kam. Und dann war er plötzlich wieder rückfällig geworden, nur diesmal war es noch schlimmer, diesmal explodierte er schon bei der geringsten Kleinigkeit und fuhr aus der Haut und war nicht mehr zu beruhigen. »Er hat mit mir über die Hochzeit gesprochen«, sagte Evie. »Er hat gesagt, was für ein herrlicher Tag heute ist und dass die Liebe eine Himmelsmacht wäre.«
Raffy nickte und biss sich auf die Lippen. »Und, bist du seiner Meinung? Hast du ihm gesagt, dass du seiner Meinung bist?«
»Ich denke schon. Ich weiß nicht recht. Raffy, du tust mir weh.«
Doch Raffy ließ sie nicht los, sondern packte noch fester zu. »Du liebst mich doch, oder?«, fragte er. »Ich meine, wir sind doch glücklich, oder? Wir beide? Es gab doch immer nur uns beide, oder? Und wir sind glücklich. Wir werden heiraten. Das wollten wir doch immer, oder?« Raffy sah sie aufmerksam an und sein schmachtender Blick durchbohrte sie. Sie sah den Schmerz und die Furcht in seinen Augen, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte und warum er das tat.
»Evie, bist du okay, meine Liebe?« Es war Sandra. Sie kam auf Evie zu. Raffy lockerte den Griff, und Evie rang sich ein Lächeln ab.
»Ja, alles okay«, sagte sie.
»Ich wollte nur wissen, wie das Kleid aussieht«, meinte Raffy leichthin.
»Sag es ihm bloß nicht!«, scherzte Sandra. »Aber sie wird einfach umwerfend aussehen!« Sie lächelte beide an und ging davon.
Evie blickte Raffy an. Seine Augen glühten vor Wut.
»Raffy, ich weiß nicht, was mit dir los ist. Natürlich werden wir heiraten. Natürlich sind wir glücklich …«
Evies Augen füllten sich mit Tränen, und sie versuchte, sie zu unterdrücken, aber Raffy hatte sie schon bemerkt und wischte sie sanft mit den Daumen fort.
»Ich weiß, es tut mir leid«, sagte er plötzlich. Die Wut verschwand aus seinem Gesicht, und er zeigte Bedauern und Reue. »Ich liebe dich einfach so sehr«, sagte er, beugte sich über sie, küsste sie, nahm ihr Gesicht in beide Hände und strich ihr mit den Daumen über die Wangen. »Ein Leben lang haben sie versucht, dich mir wegzunehmen. Aber das lasse ich nicht zu. Ich würde eher jemanden töten, als zuzulassen, dass man dich mir wegnimmt. Ganz gleich, wer es ist. Das weißt du doch, oder?« Raffy blickte sie so eindringlich, so leidenschaftlich an, dass Evie in ihm wieder den Zigeunerjungen sah, den sie fast ihr ganzes Leben lang geliebt hatte, aber sie sah auch den Jungen, der sie für sich haben wollte, der ihr nicht vertraute und der ihr nie ihre Freiheit lassen würde.
»Ich weiß«, sagte Evie, und sie hatte ein flaues Gefühl im Magen. Aber sie drängte es weg, weil sie wusste, dass er die Wahrheit sagte und dass sie nichts dagegen tun konnte.
33
L ucas erblickte Evie in der Ferne und rang unwillkürlich nach Luft.
»Was ist? Was hast du gesehen?«, fragte Linus.
Er und Lucas hockten schon seit Stunden auf einem Laubbaum ein paar Hundert Meter von der Siedlung entfernt, beobachteten abwechselnd das Tor und warteten auf die Spitzel. Mit dem Fernglas konnte Lucas die ganze Siedlung überblicken und dabei hatte er Evie entdeckt.
»Nichts«, erwiderte er rasch. »Da war nur … ein Vogel, der in meine Richtung geflogen ist.«
Linus hob eine Augenbraue, nahm das Fernglas und richtete es
Weitere Kostenlose Bücher