Das letzte Zeichen (German Edition)
sind wir so weit?«
Evie schaute ihn noch ein letztes Mal an – diese Augen, die immer so kalt gewesen waren und die jetzt strahlten wie die Sonne – und nickte. »Ich bin so weit.« Leise öffnete Lucas die Haustür.
Im Haus war es stockdunkel. Evie ließ sich von Lucas die Treppe hinauf bis zu Raffys Zimmer führen. Lucas schaltete eine kleine Lampe an. Raffy war an sein Bett gefesselt. Er hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Ab und zu zerrte er im Schlaf an den Stricken und abermals stieg Furcht auf in Evie. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie warf einen schnellen Seitenblick auf Lucas und fürchtete schon fast, er würde sie mit kaltem, höhnischem Blick verlachen, weil sie ihm geglaubt hatte, weil sie auf seinen Trick hereingefallen war. Aber in seinen Augen war nichts als Schmerz und Zärtlichkeit, als er sich über seinen Bruder beugte und ihn losband. »Es tut mir leid, Raffy«, flüsterte er. »Aber es ging nicht anders.«
Plötzlich öffnete Raffy ein Auge, dann das andere. Mit glasigem Blick begutachtete er die Lage. Als er bemerkte, dass seine Hände frei waren, und er seinen Bruder sah, der über ihm aufragte, warf er sich gegen ihn. Er stieß ihn zu Boden, sprang auf und stürzte auf Evie zu. »Schnell«, rief er hastig. »Wir müssen hier raus. Wir müssen weg von ihm.«
Evie schüttelte den Kopf. »Raffy! Wir verlassen die Stadt und Lucas hilft uns dabei.«
Raffy blickte sie überrascht und schockiert an. »Lucas? Die Maschine? Du darfst ihm nicht trauen, Evie. Er hat mich festgebunden und mich hier gefangen gehalten.« Er packte Evie und wollte losrennen, doch er fiel hin und riss Evie mit zu Boden. Lucas warf sich auf ihn.
»Still!«, zischte er. »Wenn Mutter aufwacht …« Er sah besorgt zur Tür und gab Evie ein Zeichen, sie solle sich verstecken. »Nur für den Fall«, flüsterte er. Evie huschte hinter die dicken Vorhänge am Fenster, aber außer dem Gepolter, das Raffy machte bei dem Versuch, sich aus Lucas’ Griff zu winden, war nichts zu hören. Nach wenigen Augenblicken kam Evie wieder hervor.
»Raffy«, flehte Lucas, aber es hatte keinen Zweck. Sein Bruder tobte weiter und weigerte sich, zuzuhören. Evie hockte sich bei Raffy nieder.
»Raffy«, sagte sie und nahm seine Hand. »Vertraust du mir?«
Raffys Blick wanderte von ihr zu Lucas und wieder zurück. Dann nickte er.
»Morgen werden sie dich zu einem K machen«, flüsterte sie. Raffys Augen weiteten sich vor Angst, und er wand sich noch heftiger, aber Evie drückte seine Hand fester und er hielt inne. »Wir verlassen die Stadt. Du und ich, zusammen. Lucas hilft uns dabei. Ich habe den Schlüssel von meinem Vater. Lucas ist nicht so, wie du denkst, Raffy. Er ist keine Maschine. Er hat dich beschützt.«
Raffy sah sie voller Abscheu an. »Mich beschützt? Er ist schuld, dass sie mich zu einem K machen. Er hat mich festgebunden. Er hat gesagt, ich bin eine Gefahr für mich selbst.«
»Das warst du auch«, meinte Lucas leise, aber bestimmt. »Du hast über Dinge geredet, die dir nur schaden konnten. Ich musste so tun, als wenn du verrückt wärst und wirres Zeug reden würdest. Sonst …«
»Sonst was?«, fragte Raffy wütend. »Sonst hättest du einen schlechten Eindruck gemacht? Nach deiner grandiosen Karriere?«
»Raffy, nicht …«, sagte Evie, die seine Wut verstehen, doch die Lucas’ gequälten Ausdruck nicht ertragen konnte, auch wenn der noch so sehr versuchte, ihn zu verbergen. »Du musst mir einfach glauben.«
»Ihr müsst jetzt gehen«, sagte Lucas. »Bindet mich fest, damit es so aussieht, als hättet ihr mich überwältigt.« Er ließ Raffy los und zog zwei wasserdichte Overalls und Gummistiefel unter dem Bett hervor. »Das braucht ihr für die Sümpfe«, sagte er sachlich und stopfte alles in einen Rucksack, der am Fußende des Bettes bereitstand. »Da sind auch Verpflegung und Wasser drin – genug für ein paar Tage.«
Evie starrte auf die Sachen, dann auf Lucas. »Du hast gewusst, dass ich gehen würde?«, fragte sie leise. »Du hattest das alles geplant?«
Lucas sah sie eindringlich an. »Ich dachte, ich würde selbst gehen«, meinte er.
»Und dann?«, fragte Evie und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen.
Lucas wandte den Blick ab. »Aber so ist es besser. Wenn ich hier bin, kann ich euch besser beschützen, bis ihr in Sicherheit seid.«
»Sicher aus der Stadt draußen, meinst du?«, fragte Evie.
»Sicher aus dem Weg für Lucas und dann ziemlich schnell verhungert.
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