Das Leuchten der Insel
wie er sich in seinem Sarg aufsetzte und Jim befahl, mit seinem rührseligen Gejammer aufzuhören. Jim las ein Zitat von Mencken vor: »Jeder normale Mensch muss zuweilen in Versuchung geraten, in die Hände zu spucken, die schwarze Flagge zu hissen und ans Kehlenaufschlitzen zu gehen.« Die Menge lachte, und Jim erzählte von den Abenteuern in Barfuß’ Vergangenheit: von den wilden Ritten auf Pferden durch die Ebenen von Usbekistan auf der Suche einer seltenen Sorte wilder Granatäpfel; von dem Räuber, den er in Tunesien überrascht hatte; von dem Wildschwein namens Judy, das er im Iran als Haustier gehalten hatte. »Jeden Tag sollten wir zumindest ein kleines Lied hören, uns ein gutes Gedicht zu Gemüte führen, ein erlesenes Bild betrachten und, wenn möglich, ein paar sinnvolle Worte sprechen«, las Jim vor. Jeden Tag hatte Barfuß seine nackten Füße an einem schönen, farbintensiven einhundert Jahre alten Gebetsteppich aus Belutschistan abgewischt und selbstgebackenen Apfelkuchen von zarten Minton-Porzellantellern gegessen, auf deren prächtigen tiefblauen Untergrund weiße Rosen gemalt waren. Er hatte schöne Dinge geliebt, sich mit ihnen umgeben und sie jeden Tag genossen.
Nachdem Jim seine Rede beendet hatte, standen die Insulaner einer der nach dem anderen auf, um aus ihren Lieblingserinnerungen an Barfuß zu erzählen. Evelyne Waters’ Mutter, Andrea, erinnerte sich daran, dass sie Barfuß einst als Dank für ein paar Setzlinge, die er ihr gegeben hatte, eine Flasche guten französischen Wein vorbeibrachte.
»Er sagte zu mir: ›Nimm das Gesöff wieder mit nach Hause‹«, berichtete Andrea.
»Weil es kein süßer Riesling war«, rief jemand, als das Gelächter abgeebbt war. »Er trank nur süße Weine.«
Susannah erzählte die Geschichte von ihrer ersten Bootsfahrt mit Barfuß und davon, wie er ihr beigebracht hatte, mit dem Boot umzugehen, und ihr zur Stärkung ihrer Nerven einen Schluck seiner »Herzmedizin« zu trinken gegeben hatte. Fiona, die seit mittlerweile sechs Monaten aus Indien zurück war, erzählte ebenfalls eine Geschichte, und zwar eine über das Geschenk, das er ihr gemacht hatte, als die Zwillinge geboren worden waren: ein Buch über fernöstliche Geburtenkontrollmethoden.
Nachdem alle ihre Geschichten erzählt hatten, trat Jim wieder ans Grab. Er atmete tief durch.
»Ich kann die Reden über Barfuß Jacobsens Leben nicht beenden, ohne auch über meine Mutter Betty zu sprechen und darüber, was sie und Barfuß einander bedeutet haben«, sagte er.
Susannah sah ihn überrascht an und dann zu Betty hinüber, die aufrecht und mit glühendem Gesicht dasaß.
»Barfuß und Betty waren lebenslange Freunde«, fuhr Jim vor. »Darüber hinaus teilten sie eine Liebe, die so reich und erfüllt war, dass ich ehrlich gesagt nur voller Demut darüber sprechen kann.« Seine Stimme wurde belegt, und er hielt einen Moment inne.
Bettys Augen füllten sich mit Tränen, aber sie lächelte.
»Es ist schwer für mich, mir meine Mutter ohne Barfuß vorzustellen oder Barfuß ohne meine Mutter. Der Grund liegt nicht darin, dass sie unzertrennlich gewesen wären – tatsächlich verbrachten sie lange Zeitabschnitte getrennt voneinander. Vielmehr waren sie auf eine Weise miteinander verbunden, dass man nicht in der Nähe eines von ihnen sein konnte, ohne den anderen ebenfalls zu spüren und zu kennen. Wenn eine Beziehung darüber definiert wird, was in dem Raum zwischen zwei Menschen erschaffen wird, dann schufen Barfuß und Betty etwas, das voller Vertrauen, Akzeptanz, Großzügigkeit und Leidenschaft war.« Er sah seine Mutter mit feuchten Augen an. »Ich glaube nicht, dass es übertrieben ist, zu sagen, dass Barfuß meiner Mutter nach dem Tod meines Vaters in vielerlei Weise das Leben gerettet hat. Aber ich glaube, dass sie sein Leben ebenfalls rettete, indem sie ihn geerdet hat, und auch, indem sie ihn erblühen ließ. Sie waren beide miteinander ganz sie selbst. Sie schenkten einander Freude, und sie sagten das auch.
Sie haben mir gezeigt, was es heißt, wirklich zu lieben …« – Jim sah zu seiner Frau und dann zu seinen Söhnen hin, und seine Stimme brach – »… und ich versuche jeden Tag, ihrem Beispiel gerecht zu werden.
Ich habe ein Zitat gefunden, das Barfuß auf die Rückseite eines Fotos von meiner Mutter geschrieben hat, das er in seinem Portemonnaie aufbewahrte. Es stammt aus Meine Antonia von Willa Cather und scheint mir ein passender Abschluss zu sein.« Er räusperte sich,
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