Das Leuchten der schottischen Wälder
allein die richtigen Diagnosen zu stellen, da braucht jeder Arzt einen Kollegen oder Freund, den er um Rat fragen kann. Offiziell kann ich mich bestimmt nicht mehr an die Klink wenden, aber inoffiziell würde mir Daniel immer helfen. Sie sah ihn vor sich, erschrocken und nachdenklich, als er erfahren hatte, dass sie nach Broadfield ziehen würde. Sie wusste, dass sich ihr Freund ernsthaft Sorgen um ihre Zukunft machte.
Er zeigt es nicht, aber er ist zutiefst enttäuscht, dass ich Glasgow und damit auch ihn verlassen habe. Er hat sich von unserer Freundschaft mehr erhofft, als ich zu geben bereit war. Umso netter, dass er mich jetzt nicht im Stich lässt, dachte sie voller Zuversicht.
Kapitel 6
Lena schaute auf die Uhr. Siebzehn Uhr vorbei, dachte sie, die Sprechstunde ist zu Ende. Wie an jedem Tag ist auch heute niemand gekommen. So kann das nicht weitergehen. Ich muss ins Dorf und dort nach alten Freunden suchen. Sie überlegte. Ellen vom Pub, früher hatten wir doch einen ganz guten Kontakt, vielleicht kann ich an die alten Zeiten anknüpfen. Dann ist da Leo, mit dem haben wir manchmal Fahrradtouren in die Berge gemacht, vielleicht hat der noch gute Verbindungen zu den alten Kumpels. Die sind doch alle hier geblieben. Vielleicht haben sie es mir übel genommen, dass ich damals nach Glasgow gegangen bin um Medizin zu studieren, während sie hier im Hinterland stecken geblieben sind. Wenn ich dann mal in den Ferien hergekommen bin, waren alle sehr reserviert, dabei hatte ich mich doch überhaupt nicht verändert. Oder doch? In Glasgow habe ich andere Menschen kennengelernt, gebildete Leute, junge Männer mit Weitblick und Frauen mit Niveau, die mich als Kind vom Land zuerst ziemlich mitleidig in ihren Kreisen aufgenommen haben.
Da bin ich angekommen, und hier bin ich verschwunden. Und jetzt will ich, dass man mich wieder akzeptiert. Ist das zu viel verlangt? Schließlich bin ich hier, um zu helfen. Sie müssten auf einen Arzt verzichten, wenn ich nicht bliebe, sie müssten bis nach Barcaldine fahren, wenn das Kind Keuchhusten hat oder der Mann sich ein Bein bricht.
Aber so war es schon immer. Ich weiß noch, dass Mutter sich manchmal darüber ärgerte, wie nachtragend manche Frauen waren, nur weil sie sich hin und wieder Rat in der Stadt geholt hatte oder sich nicht überschwänglich genug bedankte, wenn die Frauen kamen und ihre Rechnungen mit Butter und Brot statt mit Pfund und Penny bezahlten.
Na ja, überlegte Lena, leicht war das Leben hier draußen nicht. Obwohl Mutters Familie aus dieser Gegend stammte und Vaters Hilfe als Arzt dringend gebraucht wurde, so richtig heimisch waren sie hier wohl nie.
Lena zog den Arztkittel aus, streifte Jeans und ein T-Shirt über, verschloss die Türen und setzte sich in ihren Mini Cooper. Sie fuhr die schmale Straße nach Broadfield hinunter und hielt vor Ellens Pub. Hier hat sich überhaupt nichts verändert, dachte Lena enttäuscht. Die armseligen, verwitterten Stühle und Tische, lieblos und abstoßend vor die Eingangstür gestellt, die grauen, uralten Gardinen hinter den kleinen Fenstern, die bröckelnde Farbe an den Mauern – ich verstehe Ellen nicht. Sie könnte doch wirklich ein nettes Lokal aus dem alten Pub machen, aber anscheinend hat sie überhaupt kein Interesse daran, ein paar Gäste anzulocken.
Lena stellte den Wagen neben den letzten Tisch und ging in das Gebäude. Die Tür quietschte beim Öffnen, und irgendwo im Inneren ertönte eine Klingel. Lena sah sich um und setzte sich schließlich an einen kleinen Tisch, den eine karierte Decke und ein Strohblumenstrauß zierten. Dann kam Ellen und begrüßte sie mit einem verhaltenen Lächeln. „Hallo, was verschafft mir die Ehre?“
„Bekomme ich einen Tee bei dir?“
„Hast du keinen eigenen Herd?“
„Doch, aber ich wollte ihn gern in deiner Gesellschaft trinken.“
Ellen schaute an sich herunter und strich über die dunkelblaue Kittelschürze. „Ich bin mitten in der Gartenarbeit.“
„Oh, das wusste ich nicht. Betreibst du das Pub nicht mehr?“
„Hierher kommen sie nur noch am Wochenende. Die Leute haben kein Geld zum Ausgehen und auch keine Lust. Die meisten lassen sich nur vollaufen, streiten und verschwinden wieder, denn die Gespräche würden sich nur noch um die Misere des täglichen Lebens drehen, und wer will die schon hören.“
„Ich würde mich gern mit dir unterhalten.“
„Da bist du eine Ausnahme. Hast du nichts zu tun mit deiner Praxis und mit deinen Viechern?“
„Genau
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