Das Licht, das toetet
Karussells, auf denen er das erste Mal ein Mädchen geküsst hatte. Letzten Winter.
All dies war nun Vergangenheit.
London war die Zukunft.
20
Hachiōji, Vorort von Tokio, Japan
Chiyo sprang von ihrem Roller und schob ihn die Schotterauffahrt hoch, am Gemüsebeet vorbei, hinter den Hühnerstall. Normalerweise stellte sie ihn direkt vor dem kleinen Farmhaus ab, doch nach ihrer Flucht vorgestern fürchtete sie noch immer, erkannt zu werden.
Unsinn, schalt sie sich, denn vor zwei Tagen war sie im Zickzack durch Tokio gefahren. Nachdem sie ihren Freund Takai nicht zu Hause angetroffen hatte, war sie mit einem unguten Gefühl mehr als achtzig Kilometer durch die Straßen der Metropole gecruist. Sie hatte sich gefühlt wie eine Schwerverbrecherin, als sie auf verschlungenen Wegen nach Hause gefahren war. Alles nur aus Angst, die Polizei würde sie nach ihrem Angriff auf den Sicherheitsmann ernsthaft suchen. Warum hatte sie ihn auch verletzen müssen? Manchmal verstand sie sich selbst nicht.
Erst Stunden später war sie an den Studentenunterkünften und Universitäten vorbei die Landstraße hinaus zum Takao-Berg gefahren. Schmalen Flüssen gleich schlängelten sich die Straßen durch die Täler des Hausbergs von Tokio. Chiyo liebte es, mit ihrer Großmutter die Seilbahn zu nehmen und hinaufzufahren. Vom Takao aus konnte man bei klarem Wetter bis nach Tokio schauen und die Wolkenkratzer in der Sonne glitzern sehen.
Die beiden Tage über war sie Sobo aus dem Weg gegangen und hatte ihr nichts von dem Zwischenfall im Electro-World erzählt.
Das Haus ihrer Großmutter, in dem Chiyo seit dem Tod ihrer Eltern wohnte, lag an der Talstraße zwischen brachliegenden, von der Sonne ausgedorrten Feldern. Zwei Reihen hoher Kirschbäume säumten die Schotterauffahrt. Sie waren bereits verblüht.
Chiyo schob den Roller zwischen Sobos vier gackernden Hühnern hindurch und stellte ihn vor einer Werkbank ab. Sie hatte sich im ausgedienten Hühnerstall, der mehr Platz als das windschiefe Haus ihrer Oma bot, eine kleine Werkstatt eingerichtet. Mit bunten Tüchern hatte sie eine Ecke abgetrennt, die sie mit rostigen Aktenschränken voller Werkzeug, einer Schleifbank, Standbohrer und allerlei elektronischen Messgeräten zu ihrem Reich erklärt hatte. Hier konnte sie bis in die Nacht ungestört basteln, löten und schrauben.
Sie zog den Schlüssel des Rollers ab und steckte ihn wie gewohnt in eine Öldose, die hinter mehreren Roboterskeletten und ausgeschlachteten Hydraulikpumpen stand. Mit einer dicken Plastikplane deckte sie den Roller ab.
Bestimmt hatte dieser koreanische Wachmann ihr Foto bereits gestern durch die Datenbanken der Tokioer Polizei gejagt. Waren die Führerscheindaten schon vernetzt? Konnte jeder Polizist am Computer nicht nur die Daten des Führerscheins, sondern auch das Passfoto abrufen? Wenn ja, würde sicher irgendeine ausgefuchste Software ihr Foto erkennen und Alarm schlagen.
Nein, redete sie sich gut zu, soweit ist die Polizei selbst hier in Japan noch nicht. Sie hatten nur eine Aussage des Koreaners und der anderen Sicherheitsleute aufgenommen und sich dann den Ordner angesehen, in dem sie unter drei verschiedenen Namen auftauchte. Das war alles. Ihr Nummernschild hatte sie seit Monaten nicht geputzt und niemand hätte es in dem Durcheinander entziffern können. Da war sie sich sicher – zumindest, solange sie nicht die nächsten Wochen bei Electro-World auftauchte und wieder stahl.
Ihr Blick fiel auf die Roboter. Einer von ihnen war ein blauer Gecko.
Mit winzigen Schläuchen und feinen Mechanikstangen hatte sie der kleinen Echse Leben eingehaucht. Das Besondere jedoch waren seine übergroßen Tatzen. Statt vier wie bei einem wirklichen Gecko hatte Gexx, wie sie ihn nannte, sechs Füße. Die letzten Wochen hatte sie jeden Tag in der Werkstatt verbracht, um Gexx’ Füßchen mit einem speziellen Kunststoff zu überziehen, der Millionen feinster Härchen besaß. Zusammen mit ihrem Freund Takai hatte sie die Schule geschwänzt, um zwei Monate lang durch Electro-World und andere Märkte in Akibabara zu streifen und Bauteile zusammenzusuchen.
Die Füßchen hatte Chiyo der Natur abgeschaut, denn durch die vielen Härchen konnte ihr Roboter wie ein echter Gecko an Wänden auf- und ablaufen. Gebaut hatte sie ihn, weil er die Wände und die Fensterscheiben ihres Hauses putzen sollte.
„Du musst noch ein bisschen schlafen, Gexx“, sagte sie und gab dem Gecko ein Küsschen auf den Kopf. „Electro-World hat
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