Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Abertausenden von künstlichen Lichtern, die da draußen in der Nacht wie Leuchtbojen schwammen. Irgendwo hinter diesen Lichtern, hinter all dem Glas, Beton und Geld mussten sich reale Menschen befinden. Aber hier auf sich selbst geworfen, zweifelte er an ihrer Existenz. Und er zweifelte an sich selbst. Sein Gesicht spiegelte sich in dem zu großen Panoramafenster: erschreckend alt und verbraucht, und schlimmer noch, seine Züge ähnelten nun immer mehr denen seines Vaters, er näherte sich ihm an, es gab kein Entkommen. Sein Vater, der dreifache Frauenmörder, der eigentlich im Knast verrotten sollte, es aber geschafft hatte, entlassen zu werden. Robert hatte es eher durch Zufall erfahren – eine Meldung in der Online-Ausgabe einer Zeitung. Er hatte daran gedacht, seinen Bruder wieder mal anzurufen, nur wozu? Um schlafende Geister zu wecken? Nur war es zu spät, um sich zurückzuziehen, und sein früheres Leben marschierte wie eine beschissene Straßengang, auf Ärger und Randale aus, direkt in ihn rein. Das gab ihm den Rest. Und so dachte er, weit weg von zu Hause, so intensiv an Frank wie schon lange nicht mehr.
»Ich glaub’s nicht. Du und Bulle?«
»Glaub’s ruhig.«
»Wer hat dir diese Flausen bloß in den Kopf gesetzt, Frank? Ich wette, dieser Kommissar, der Vater verhaftet hat, steckt hinter dieser Idee.«
»So etwas kann ich durchaus alleine entscheiden, Rob. Es ist das, was ich tun will.«
»Das willst du doch gar nicht … du wirkst auf mich wie fremdgesteuert. Du hast doch gar keinen Bezug zu diesem Beruf.«
Frank lachte freudlos. »Mehr Bezug als ich haben die wenigsten, meinst du nicht auch.«
»Ja. Und gerade deshalb ist es keine rationale Entscheidung.«
»Und welche wäre so eine?«
»Du kommst zu mir. Ich baue mir einen eigenen Betrieb auf. Steig mit ein, wir beide als Team, Kleiner.«
»Aber es ist nicht das, was ich will, Rob.«
»Hör doch mal … ich werde dich dort nicht mehr beschützen können.«
»Aber das ist okay, Rob. Ich bin jetzt so weit.«
Robert hatte seinen Bruder nicht davon abbringen können, Polizist zu werden. Natürlich steckte dieser besessene Alte dahinter, dachte er. Lohmann. Er hatte sich nach ihren Verlusten vor allem um Frank gekümmert. Davor um ihre Mutter.
Robert seufzte tief und schwer. Nicht mal am Arsch der Welt entkam er diesem Mist.
Lohmann hatte ihre Mutter überredet, mehr noch: sie dazu gedrängt, ihren Vater in der Untersuchungshaft zu besuchen, um ihn weitere Details, die er den Bullen nicht verriet, zu entlocken. Und das verlangte er von einer psychisch labilen Frau, dachte Robert, die, völlig versteinert und verstört, hilflos durch Dunkelheit und Verwirrung irrte.
Das Ergebnis fand Robert eines Morgens dann im Badezimmer vor – in einer mit Blut vollgelaufenen Wanne …
Und dann nahm dieser Bulle ihm auch noch seinen kleinenBruder weg. Frank ging den ganzen Weg, erst als Streifenbeamter, um dann auf Lohmanns Rat hin die höhere Laufbahn einzuschlagen. Ausgerechnet in der Mordkommission. Und weshalb? Aus Schuldgefühlen heraus. Weil auch Lohmann das Bild einer blutgefüllten Wanne nicht mehr aus dem Kopf bekam?
Wie auch immer: Die Wege der Brüder trennten sich.
Wir steckten in einem tiefen, dunklen Wald und folgten jeder einem anderen Licht, nur führte mich mein Licht in eine noch größere Finsternis hinein, dachte Robert.
Was Frank jetzt wohl tat? Leichen zählen? Die Orte aufsuchen, an denen die Toten auf ihn warteten? Seit Jahren telefonierten sie nur noch sporadisch miteinander. Es hatte keinen Streit gegeben, nur Roberts Verschwinden in ein anderes Leben. Ein Leben, das ihn manchmal an Orte wie diesen hier führte. Aber wieso dachte er gerade jetzt an Frank?
Auf der Bühne neben der Bar quälte ein von babyspeckummantelter deutscher Teenager die wenigen Gäste mit einer grausigen Karaoke-Darbietung von Florence Welchs »You’ve got the Love«. Die ersten Buh-Rufe kamen erst zaghaft und dann mit jedem weiteren Schluck aus vollen Gläsern immer mehr und lauter und vertrieben das beschämte Kind in die Arme seiner Eltern, die es daraufhin aus der Bar hinter sich herzerrten.
Neben Robert stritt sich ein junges amerikanisches Pärchen auf Hochzeitsreise über alte, missverstandene Highschool-Erinnerungen, der Mann, angetrunken und gekränkt, schrie auf seine Frau ein, die immer stummer wurde, der Abend endete erwartungsgemäß in Tränen.
Später ließ sich Robert von einer überaus blonden, sahnehäutigen Dänin mehr oder
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