Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
schlief und war doch weniger anwesend als je zuvor. Was sie tat, war ohne Bedeutung. Sie war ohne Bedeutung. War gefangen in einem Limbo voller Zerrspiegel, in denen sie sich als ein sich ständig verändertes Etwas sah. Nur manchmal, in den wenigen Minuten, in denen sie zwischen zwei weiteren Tranchen Betäubungsmitteln ihren klaren Verstand zurückerlangte – nicht mehr als das Aufblitzen einer silbrig geschwungenen Klinge in der dicken wattierten Dunkelheit, die in ihr herrschte –, raunte ihr ein letzter Funke Lebenswille zu, dass Holger sie einfach wie Müll entsorgen würde, wenn er ihrer überdrüssig wurde. Und tatsächlich hielt der Wolf schon wieder Ausschau nach einer Nachfolgerin. Fuhr mit seinem Porsche nachts die Straßen ab. Seine gelben Augen leuchteten mit dem Mond um die Wette.
Pollys Zeit lief ab.
Holger erhöhte die Dosis ihrer Mittel. Sorgte dafür, dass sie wie ein Bleigewicht in den Federn hing. Die Medikamente pürierten ihr Gehirn und ließen sie beinahe unablässig die bizarrsten Dinge träumen, die ihr so plastisch erschienen, dass sie glaubte, wahnsinnig zu werden. Oder es schon zu sein.
Wenn es zu schlimm wurde, versuchte sie mit aller Macht, sich an ihren Vater zu erinnern, wendete, faltete seine Bilder, sprach seinen Namen wie einen Schutzzauber aus, schnüffelte nach seinen Aromen und Gerüchen … vergeblich, er bliebverschwunden, gefressen von demselben schwarzen Loch, das sich nun sie vornahm.
Nein, sagte sie, nein. Sie durfte sich nicht einfach so auflösen. Also flüsterte sie ihren Namen. Polly. Eigentlich Pauline, so stand es zumindest in der Geburtsurkunde.
Aber Papa nannte mich immer nur Polly, weil er den Namen so viel schöner fand. Pauline. Polly.
Polly. Ich. Ich bin das.
Polly. Ich bin hier. An diesem Ort.
Ich.
Doch in der Schwärze hinter ihren Lidern löschte sich die Welt aus, und sie verlor die Verbindung zu sich selbst.
Keine Rettung in Sicht, nirgends.
Holger bezog seinen Stoff von einem Kerl, der mit den Rezepten seines Vaters dealte und so an die Schmerzmittel herankam. Holger traf ihn normalerweise außerhalb seiner Wohnung, aber an diesem Abend holte er ihn zu sich hoch. Polly lag, mit Handschellen nach ihrer letzten Behandlung ans Bett gefesselt, im Schlafzimmer. Sie blutete aus einer tiefen Schnittwunde am Bauch, sie blutete viel zu stark und viel zu schnell, und die Wände fielen unerträglich langsam auf sie nieder. Sie würden sie unter sich begraben. Endlich. Vielleicht war es endlich so weit. Sie hörte Stimmen. Sie hörte den Wolf. Sie hörte den anderen Mann sprechen. Sie glaubte, diese Stimme schon einmal gehört zu haben. Holger hatte sie nicht geknebelt, neuerdings war er von ihrem Wimmern und Schreien fasziniert, es war das letzte bisschen, mit dem sie ihn noch reizen konnte. Sie versuchte, sich erkennbar zu machen.
Hilfe.
(Nein, das war zu schwach.)
HILFE.
(Ja, das würde besser sein.)
Dann los. Sie musste nur den Strick, den die BeruhigungsundBetäubungsmittel ihr in die Zunge geknüpft hatten, lösen. Ihre Zunge war so schwer wie eine Bleiplatte …
Hilllfffeee …
Wie ein krächzender Rabe … mehr kam nicht. Aus Enttäuschung schob sie ihre nutzlose Zunge, diesen elenden Dreckskerl zwischen ihre Zähne und biss zu, bis sie auch dort blutete. Das Blut schmeckte seltsam, so als wäre es nicht ihres, und es brannte salzig in ihrem Rachen. Sie versuchte erneut auf sich aufmerksam zu machen, aber inzwischen lagen die Wände des Zimmers auf ihr drauf und pressten ihr den letzten Atem aus den Lungen. Alle Farben um sie herum verblassten, und Finsternis stieg vor ihr auf. Sie driftete weg … und in der Finsternis nahm ihr Vater endgültig Gestalt an und streckte seine Hand nach ihr aus. Sie war warm und lebendig.
Polly ergriff sie. Von irgendwo hinter ihr polterten Geräusche wie von einem Kampf in der Dunkelheit, aber was hinter ihr lag, besaß keine Bedeutung mehr.
Als sie erwachte, war da kein Unterschied zwischen Traum und Realität. Sie stand an einem Strand vor einem ruhigen Meer und starrte auf zwei exakt gleich große Monde, die sich wie Zwillingsgeschöpfe die ganze unendliche Breite des Firmaments teilten. Es war weder Tag noch Nacht, sondern beides in einem. Als sie Mevissen später von diesem Traum erzählte, meinte er, dieses Bild schon einmal in einem Film gesehen zu haben. Sie hätte ihn bestimmt auch irgendwann gesehen und sich daran erinnert.
»Ich glaube, so muss es im Jenseits aussehen«, sagte sie. Fremd,
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