Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Messer landete in Holger und blieb dort stecken. Wahrscheinlich nur nicht tief genug.
Nun, es spielte keine Rolle, ob Holger tot war oder nicht. Wenn er tot war, würden die Bullen früher oder später nach Mevissen und damit auch nach Polly suchen. Lebte er noch, dann war Mevissen nicht mehr sicher, denn Holger kannteMevissens Kontakte und würde ihn entweder bei den Bullen verpfeifen oder selbst nach ihm suchen. Wölfe wie er vergaßen und vergaben nichts.
»Du hättest mich bei der Polizei abliefern können«, sagte Polly. »Ich hätte dich niemals verraten.«
»Hättest du das gewollt? Dass ich dich bei den Bullen abgebe und wieder aus deinem Leben verschwinde?«
»Nein«, sagte sie, ohne groß darüber nachzudenken. »Nein.«
»Aber versprich mir eines«, sagte sie dann.
Er blickte sie mit seinen warmen Augen an.
»Egal, was du tust, lüg mich niemals an.«
»Tue ich nicht.«
Nur dieser eine Satz, und mehr bedurfte es nicht, um mit ihm zu gehen.
Sie schliefen das erste Mal in einem billigen Hotelzimmer am Rande einer größeren Stadt miteinander. Das Zimmer war klein und spärlich eingerichtet, der Vorläufer von vielen, die noch folgten. Die Vorhänge waren schmutzig und stanken nach altem abgestandenem Zigarettenrauch. Die Bettlaken sahen benutzt aus – andere Paare vor ihnen hatten diesen Fluchtpunkt ebenfalls aufgesucht, um einen Moment der Ruhe im Sturm ihres Lebens zu finden. Bevor sie sich liebten, wusch Mevissen Pollys geschundenen Körper und wechselte den Verband an ihrem Bauch, den sein Vater angelegt hatte. Als er den blutigen Tupfer und die Mullbinde entfernte, fühlte er sich, weil sie beide ihre Finger am gleichen Material hatten, seinem alten Herrn fast nahe. Dieses Gefühl überhaupt zuzulassen, beschäftigte ihn mehr, als ihm lieb war, und es gelang ihm nur mühsam, die anderen desaströsen Bilder, die sich dahinter verbargen, von sich fortzuschieben. Irgendwann würde er die Fäden der Wundnaht ziehen müssen und auch das hinbekommen. Mevissen entsorgte das blutige Verbandsmaterial in einer Einkaufstüte. Dann verabreichte er Polly ein Schmerzmittel.Ihre Toleranzgrenze war durch Holgers sadistische Fürsorge hoch, aber jetzt war nicht die Zeit, um sie davon runterzubringen. Er selbst genehmigte sich auch etwas davon – allerdings im Bad, wo sie es nicht so mitbekam. Er wartete, bis sich das Morphin im Blut verteilte, rasch, weil er einen dauerhaft erhöhten Pegel besaß. Er wurde ganz leicht und warm.
Die Welt draußen zog sich zurück, und die Welt in ihm drinnen ebenfalls.
Das Gefühl eines sanften Vertigos stellte sich ein – eine Kamerafahrt vor und einen gleichzeitigen Zoom zurück.
Als näherte er sich seinem Gesicht im Badezimmerspiegel, nur um sich direkt wieder davon zu entfernen.
Und genauso fühlte er sich schon sein ganzes Leben lang.
Anschließend legte er sich zu ihr, schlüpfte aus den Schuhen, ließ aber die Jeans und sein Hemd an. Polly trug eines seiner Hemden (in Holgers Wohnung hatte Mevissen auf die Schnelle nur einen schon blutgetränkten Fetzen über Polly geworfen, ihr Hose und Schuhe angezogen und später aus der Praxis seines Vaters ein frisches Hemd und eine wattierte Jacke besorgt) und ihr Höschen. Zum ersten Mal war er unsicher und hilflos in der Gegenwart eines anderen Menschen. Er versuchte immer noch nachzuvollziehen, was ihn zu der Entscheidung, Polly zu retten und mitzunehmen, wohin auch immer, geführt hatte. Handelte es sich tatsächlich nur um den Moment des Wiedererkennens? Tatsächlich hatte er alle Gesichter aus seiner schulischen Laufbahn vergessen, Namen sowieso, diese Leute hatten ihm schon damals nichts bedeutet. Aber an Polly, der er nur ein paar Mal völlig unverbindlich zum Zigarettenschnorren begegnet war, hatte er sich, sobald er ihr Gesicht sah, wieder erinnert. So als wäre sie die ganze Zeit auf eine subtile, unsichtbare Weise in einer staubigen Schublade seines Gedächtnisses präsent gewesen. Und jetzt lagen sie beieinander, und er erinnerte sich nicht daran, jemals jemandem so nahe gewesen zu sein.
Es überhaupt gewollt zu haben.
Mevissen wollte ihr noch Zeit geben, weil er dachte, dass sie, gerade erst einem sadistischen Vergewaltiger und Beinahe-Mörder entkommen, vieles im Sinn hatte, nur nicht, mit ihm zu schlafen, aber es war Polly, die ihn drängte, die ihn an sich zog, seine warmen Hände auf ihre Brüste legte, zerkratzt, zerbissen von den Attacken des Wolfes, der seine Spuren auf ihr zurückließ, aber sie
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