Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
unendlich fremd, eine andere Welt. »Aber ich war real, ich habe mich gespürt, und das Meer war real, der Wind in meinen Haaren, alles.«
Dieser Traum … sie fragte sich, ob manche Träume so intensiv waren, dass sie einen veränderten. Die letzten Wochen und Monate, eigentlich die ganze Zeit seit dem Tod ihres Vaters waren ihr wie ein Traum vorgekommen, der nicht mehr Traumwar, sondern Wirklichkeit. Alles hatte sich verändert, hatte sie verändert, so dass sie ihre eigenen Erinnerungen nicht mehr wiedererkannte. Ihre Erinnerungen waren zu Träumen zerfallen.
»Du hattest viel Blut verloren«, sagte Mevissen und hielt sie fest. »Und du warst voll mit dem Zeugs, das ich diesem Dreckskerl verkauft habe.«
Er brachte sie in die Praxis seines Vaters, am selben Abend noch. Rief ihn von unterwegs an, sagte, eine Freundin sei verletzt und er könne sie nicht in ein Krankenhaus bringen. Was sie nicht wusste, war, dass es das erste Mal in zwei Jahren war, das sie wieder miteinander sprachen.
(Die Druckwellen der Realität. Mevissen musste seinen alten Herrn um Hilfe bitten, auch wenn jedes Wort als Stein in seinen Magen fiel und er sich dabei besiegt vorkam.)
Mevissens Vater erwartete sie bereits, als sie ankamen. Er nähte nicht nur die tiefe Wunde, die ihr Holgers Messer zugefügt hatte, sondern versorgte auch die anderen, zum Teil schon älteren Wunden und Narben.
»Das war nicht Ihr Sohn«, sagte Polly, als sie das entsetzte Gesicht des alten Mannes sah, »im Gegenteil, er hat mich gerettet.«
»Das wäre das erste Mal, dass Christian etwas für einen anderen tut«, sagte sein Vater. »Suchen Sie sich dringend Hilfe, aber nicht bei Christian, glauben Sie mir, er ist nicht der gute Samariter, für den Sie ihn halten.« Und als wolle er ihr beweisen, dass er recht hatte, führte er Polly, auf seine Schulter gestützt, in sein Arbeitszimmer. Mevissen stand mit dem Rücken zu ihnen vor einem Medizinschrank und steckte sich Schmerz- und Betäubungsmittel in seine Jackentaschen. Aus der Hosentasche ragte ein Block Privatrezepte hervor. Als er Polly und seinen Vater bemerkte, verdüsterte sich sein Gesicht und brannte vor Scham und Trotz.
»Polly braucht das Zeug«, sagte er.
Sein Vater sagte: »Sie muss davon runterkommen. Nicht sie braucht es, du bist derjenige, der davon abhängig ist, Christian. So abhängig, dass du mich bestiehlst wie ein kleiner Junkie.«
»Tja, was soll ich dazu sagen außer: richtig, ich bin ein kleiner verschissener Junkie.«
»Dann lass dir helfen und hau nicht wieder ab.«
»Dieses honorige Angebot kommt ein bisschen spät.«
Mevissen drängte sich an seinem Vater vorbei und griff dabei nach Pollys Hand, die sich instinktiv an ihn klammerte.
»Das Mädchen braucht Hilfe, aber nicht deine«, rief sein Vater ihnen hinterher.
»Ja, so wie Mutter deine gebraucht hätte, aber du warst ja nicht da«, sagte Mevissen. So zugedröhnt konnte Polly gar nicht sein, um nicht den klaffenden Abgrund in seiner Stimme zu hören.
Mevissen zog Polly hinaus in die Nacht. Es regnete, es war kalt, aber zum ersten Mal hielt Polly eine Hand, der sie vertraute.
Später fragte ihn Polly: »Und seine Unterschrift? Ohne seine Unterschrift kannst du die Rezepte doch gar nicht einlösen.«
»Er ist mein Vater«, sagte Mevissen, »aber das Einzige, was uns noch verbindet, ist dieselbe Handschrift.«
»Willst du darüber reden?«
Er strich über ihr Haar. »Was gibt’s da schon zu sagen? Es ist doch immer irgendwie die gleiche abgefuckte Geschichte.«
Die von den Familienabgründen; von unbeglichenen Forderungen und enttäuschten Erwartungen. Von dem, was man losließ, weil es sich nicht lohnte, daran festzuhalten.
Nun, auf dieser Ebene verstand sie ihn.
»Und er«, sagte Mevissen, »würde dir denselben Scheiß ganz anders erzählen. Und du wüsstest nicht, wem du glauben solltest.«
»Doch«, sagte sie, »dir. Dir würde ich glauben.«
Mevissen schüttelte den Kopf, und mit einem Mal legte sich der drückende Schatten eines Zweifels über sein Gesicht.
»Nein, Polly. Glaube nie irgendjemandem irgendetwas.«
Sie legte ihren matten Kopf an seine Schulter und blickte durch die Windschutzscheibe auf die Nacht und ihre verzerrten, verwaschenen Lichter.
Es war letztendlich Holgers Geiz, der Polly das Leben rettete. Immer wieder hatte er den Preis für die Schmerz- und Betäubungsmittel gedrückt, so dass Mevissen ins Minus rutschte. Er hatte noch andere Kunden an der Hand, aber die verarschten ihn
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