Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
sich ihre Persönlichkeit geformt hatte, die Kraft und Stärke, die ihnen angeboren war oder die sie durch das Leben selbst erworben hatten. Bei Robert dauerte dieser Zerfallsprozess schon eine ganze Weile, und er hätte nicht mal sagen können, wann es angefangen hatte; er spürte nur immer stärker, immer drängender, wie die Brandung der Zeit und der Umstände seines geheimen Lebens ihn zersetzten; er trank zu viel, er war zu alleine, er war einsam,Punkt! Er war der Handlanger eines kriminellen Soziopathen, mied darüber hinaus den Kontakt zu dem einzigen Menschen auf der Welt, der ihm etwas bedeutete, für den er sogar sterben würde, und er hatte es so satt. Und als er sich mit all diesen Aspekten beschäftigte, fiel ihm, natürlich und leider und verdammt, Klaus Mikosch ein, diese halbe Portion, dieses sich selbst zerreißende Blatt Papier, und er begriff endlich das, was er bei seiner Begegnung damals nicht hatte hören, geschweige denn wahrhaben wollen: dass es zwischen ihm und Mikosch keinen Unterschied gab. Robert befand sich ebenso wie Mikosch in einem Zustand der Auflehnung.
Aber das ist das Tolle daran, wenn du ein Felsen bist – niemand sieht, wenn die Lavasuppe in dem verschlossenen Kratersystem anfängt hochzukochen, bis der ganze Berg explodiert und dir der Scheiß mitten im Gesicht landet.
Robert infiltrierte Selinas Leben behutsam, näherte sich ihr in geduldigen, konzentrischen Kreisen. Folgte ihren Spuren, ihrem Alltag und lernte dabei seine Stadt erneut kennen wie einen alten Freund, den man viel zu lange vermisst hatte.
Wie aus großer Ferne sah er Liebespaaren zu, wie sie engumschlungen an Straßenecken standen, sah die Gesichter in den breiten, hellen Fenstern der Restaurants und Bars, sah zu, wie sich das Leben um ihn herum wie eine Flamme verzehrte, Menschen, die auf die Grenzenlosigkeit ihrer Liebe bauten oder auf ihren Vorrat an Selbsttäuschung, Menschen, die in Bewegung waren oder schon dabei zu erstarren, die zusammenfanden oder sich trennten.
Erst in der dritten Nacht startete er seinen ersten Versuch. Es zeigte sich, dass er nur diesen einen benötigte. Es war einfacher, in ihre Nähe zu kommen, wenn sie nicht umgeben war von ihren Künstlerfreunden, also folgte er ihr in eine Bar, knipste in seinen Augen die Lagerfeuer, goldene Schalen aus Licht und Ruhe an und machte sich an die Arbeit.
Das hier ist ein Job, musste er sich sagen, und je näher er ihrkam, desto häufiger wiederholte er es, und das brachte ihn aus dem Konzept: seiner eigenen inneren Anweisung, dem Masterplan nicht mehr zu trauen, ihn in Zweifel zu ziehen. Irgendein Scheiß lief ihm gerade mitten in die Parade hinein. Ein Stein, über den er stolperte. Die Bananenschale, die ein höhnisch grinsender Affe ihm vor die Füße warf, und klar, er rutschte natürlich auf ihr aus. Robert am Boden, Affe lacht.
Der Stein, die Bananenschale; Gefühle. Selbst Robert, dieser Roboter-Kurier, dieser Seelenverkäufer in eigener Sache besaß so etwas. Immer wenn er an Frank dachte. Das hier bedeutete also nicht die Entdeckung Amerikas, des Gelobten Landes, auf seiner spärlich beleuchteten Seelenkarte. Aber es kam überraschend – in etwa so überraschend wie ein Herzinfarkt bei einem 150 Kilo schweren Diabetiker. Und immer zur Unzeit. So etwas konnte er sich gerade jetzt nicht leisten: etwas für einen anderen Menschen zu empfinden, das über bloßen Sex oder ein Geschäft hinausging. Immerhin würde er Selina ausnutzen, belügen, betrügen, ihr den Vater rauben, egal, ob der sie einen Dreck interessierte oder nicht, ihr Vater würde für immer verschwinden, umgebracht von zwei russischen Blutsäufern, vergraben in unheiliger Erde, zerstückelt, gekocht, mit ungelöschtem Kalk zersetzt, was auch immer diese Supermörder draufhatten an Scheußlichkeiten; es würde kein Lebewohl geben, nicht mal eine bühnenreife Auseinandersetzung über die Verfehlungen in Mikoschs Vergangenheit. Das alles raubst du ihr, dachte Robert, und nebenbei raubte der Tod ihr die Mutter, und danach macht ihr beide euch aus dem Staub wie ein paar schäbige Diebe in der Nacht. Er würde ihr wehtun und da sie nicht dumm war, würde sie irgendwann eins und eins zusammenzählen und seinen Namen in die Nacht brüllen und ihn verfluchen.
Falls sie dazu dann noch die Kraft fand.
Selina sagte etwas, was er nicht sofort mitbekam, sie hatte sich ihm jetzt zugewandt und lächelte, und dieses Lächeln machtesie, anders, als er das bei Frauen sonst erlebte,
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