Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
reflektierenden Sonnenlicht blinkende Stück einer Scherbe im Sand gewesen.
Sie tranken und redeten und lachten und waren nicht anders als die anderen um sie herum und doch so weit von ihnen entfernt wie nur irgend möglich. Robert erfuhr, dass sie eine (»seit zehn Jahren«) Zugewanderte war, ursprünglich aus Viersen am Niederrhein stammte und wie viele andere der Faszination Berlins erlegen war.
Berlin war gleichbedeutend mit Freiheit, mit der Möglichkeit, ein ganz anderer zu werden als der, der man war, neu anzufangen, Mauerstadt, Transit, offener Raum, der heilige Gral. Das Herz dieser Stadt schlug nie dort, wo man sich aufhielt, sondern immer eine Ecke, einen Straßenzug weiter, so dass man gezwungen war, dem Herzschlag hinterherzueilen, um ja nichts zu verpassen. Nichts war mehr von Dauer, Gebäude existierten gerade so lange, um legendär zu werden und dann wieder unterzugehen, damit die kurze Erinnerung an ihre Anwesenheit die Zeiten im Gedächtnis derer, die Teil davon waren, überdauerte. Robert erzählte ihr von dem West-Berlin der 80er, in dem er aufgewachsen war, von diesem gleichzeitig düsteren und magischen Ort, von seiner schmutzigen Clubatmosphäre, seinem poetischen Verfall, und plötzlich fragte sie nach seiner Familie, und das war der Moment, in dem er sein Visier schließen musste,weil er sonst die Kontrolle verlor. Doch er war wie gelähmt und ließ einen Spalt offen, und der reichte ihr, um durchzuschlüpfen und zu ihm zu gelangen, und sie eroberte ihn ohne Gegenwehr, und die folgenden Worte fielen wie eine Erlösung aus seinem Mund. Er trat aus den Schatten in das Licht. Erzählte ihr von seinem Bruder und dass dieser Polizist war, hier in Berlin, und als sie den Stolz in seiner Stimme wahrnahm, spülte ihr warmes Lächeln ihn fast aus der Bar. Beide konstatierten, dass in dieser Stadt, die sich so vorwärtsgewandt gab, immer noch eine Menge Leute damit beschäftigt waren, zurückzublicken, und sie fragten sich beide, ob das nicht Zeitverschwendung war. Sie wurden dabei nicht müde, einander anzusehen, den anderen zu erforschen, sich auf ihn einzulassen, so dass die anfängliche Ungezwungenheit einer Ernsthaftigkeit wich, von der sie nicht wussten, wohin diese sie führen würde.
»Wollen wir gehen?«
Es war Selina, die fragte, drängte, die bereit war, immer bereit, wie Arschawin ihm verächtlich erzählt hatte. Robert nickte. Sie stand auf und ging voraus, Robert zahlte und folgte ihr hinaus in die Nacht.
Arschawin legte die Kamera zur Seite und sagte:
»Er ist an ihr dran, dieser Mister Gigolo.« Dann dachte er, dass die beiden nun miteinander schlafen würden, und es pisste ihn wirklich an. Er verachtete Robert Abraham. Gut genug, dieses Flittchen klarzumachen, aber wenn es dann blutig und grausam wurde, wollte er sich nicht die Hände oder seinen teuren Anzug schmutzig machen. Grischa neben ihm nahm ihm die Kamera aus der Hand und blickte auf die Aufnahme im Display, die Arschawin durch das Panoramafenster hindurch geschossen hatte. Arschawin spürte einen Schauer im Genick. Das war also der Eismann.
Er hatte ihn heute Morgen vom Flughafen abgeholt; der Kerl sah vielleicht aus: wie das menschgewordene VäterchenFrost, ungewöhnlich klein und untersetzt wie ein Bauernbursche aus der Taiga, er roch nach Kohl und Knoblauch, alles in allem ein älterer, harmloser Rentnertyp, wenn man ihn so von weitem sah. Kam man dann aber näher, änderte sich die Perspektive radikal. Dann sah man dem Kerl in die Augen. Und die Augen erzählten eine andere Geschichte.
»Genug gesehen?«
Grischa zog es vor, zu schweigen, er saß nur da und starrte auf Robert Abraham und Selina Leifheit, beide nicht mehr als eine Straßenbreite von ihm entfernt.
Dass er ihm nicht sofort antwortete, ärgerte Arschawin. Von Anfang an hatte der Profi aus Moskau ihn nicht für voll genommen. Als wäre er nur eine lästige Fliege, die um ihn herumschwirrte und deren Anwesenheit er hinzunehmen hatte.
Abraham, der Auftragsmörder, und was war seine Rolle?
Wieso sollte er sich eigentlich wie ein Stück Scheiße fühlen?
»Was ist mit der Waffe?«, fragte Grischa Arschawin.
Am liebsten hätte ihm Arschawin gesagt: Besorg sie dir selbst, Wichser, und wenn du schon dabei bist, besorgst du es DIR am besten auch noch selbst, aber er hatte in diese Augen geblickt und hielt klugerweise den Mund. Sagte nur:
»Wartet in der Wohnung.«
Sie fuhren los, Arschawin die Hände verbissen ums Lenkrad gekrallt, Grischa in sich
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