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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cyrus Darbandi
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versunken und gleichzeitig doch hellwach, fiebrig und eiskalt, zwischen beiden Aggregatszuständen pendelnd.
    Selina wohnte in der Torstraße, einem Kraftzentrum des Gegenwärtigen, Berlin, das »Lost-Generation«-Paris des Internet-Zeitalters, Freiheitsraum und Feier der leeren Brieftasche zugleich. Eigentlich war die Torstraße nichts anderes als grau, breit, schmutzig und hässlich, aber trotz der Plattenbauten, die ihre ausgelaugten Gesichter von der Sonne abwendeten, brauchte man inzwischen Wochen für Tischreservierungen ineinem der ansässigen Restaurants. Selina arbeitete als Kunstmaklerin, ein Zwischending aus Galeristin, Muse und Szenegängerin. Sie lebte in einer Zweizimmerwohnung, die besetzt war von Kunst, Plastiken, kleineren Skulpturen, Bildern, Fotografien, eine Art geballte Faust der hiesigen Kunstszene. Farbexplosionen auf Gemälden wechselten sich mit rätselhaft-irritierenden Fotografien dunkler Hauseingänge ab, in denen spärlich bekleidete Frauen mit Micky-Maus-Masken David Lynch-artig verstörend in die Kameras blickten.
    Als Selina aus ihren Sachen schlüpfte, lachte sie dabei und drehte eine Pirouette. Ein wenig ungelenk, weil sie angetrunken war. Ihr Körper verlor sich einen Moment lang im Halbdunkel des Schlafzimmers ihrer Wohnung. Das war vielleicht die größte Überraschung – dass sie hier gelandet waren und nicht auf seinem Hotelzimmer.
    Eine Premiere, wie sie ihm erklärte.
    »Ein No-go, aber bei einem so schönen Mann mache ich eine Ausnahme.«
    Weil sie davon ausging, ihn morgen nicht wiederzusehen? Robert legte seinen Anzug ab, als entledige er sich einer Rüstung. Selina ließ sich aufs Bett fallen und sah ihm zu. Wartete. Wartete auf ihn.
    Plötzlich kam er sich unsicher vor – wie ein junger Kerl vor seinem ersten Mal. Seine ansonsten so fließenden Bewegungen stockten. Sie grinste übers ganze Gesicht, weil sie seine Unsicherheit regelrecht witterte, und sie fand es süß und rührend, weil er doch so viel älter und in vielen Dingen erfahrener war. War er also vielleicht doch verheiratet und das hier sein erster Seitensprung? Die Unsicherheit vor einer Premiere? Einen Ring an seinem Finger hatte sie nicht gesehen, aber seine Anzugtaschen waren ja groß genug. Doch interessierte sie das wirklich? Hatte es sie denn je interessiert, in den vielen Nächten, in denen der Körper des anderen wichtiger war als das, was sich dahinter verbarg?
    Dann war er bei ihr, und es war egal.
    Sie küssten sich, ihr Mund war sinnlich, ihre Zunge verspielt und herausfordernd.
    Anfänglich maßen sie ihre Kräfte, klammerten sich aneinander, keiner wollte der Erste sein, der nachgab. Robert fand es rätselhaft befriedigend, ihren Namen auszusprechen; er wiederholte ihn mit jeder Berührung ihrer gebräunten Haut. Absolut nichts an ihr wirkte banal, und neben ihr, auf ihr, in ihr kam er sich nicht fremd vor wie sonst. Ein seltsames und gleichzeitig unglaublich beruhigendes Gefühl erfüllte ihn – wie wenn man aus der finsteren Kälte einer menschenleeren Landschaft in ein von Licht und Wärme erfülltes Haus voller Menschen tritt. Ihre Stimme hatte sich wieder gefangen, war fest und weich zugleich, wechselte zwischen hart und sanft, so wie ihr Körper sich seinen Bewegungen anpasste.
    Sie schlang ihre Beine um seine Hüften, schrie, als sie beim ersten Mal kam, zu schnell, zu heftig, zerrte an Roberts Haaren, brachte sie in Unordnung, brachte ihn in Unordnung, ordnete sich seinem Körper unter, während er sich tief in ihren schob, sich regelrecht in ihn versenkte, so als wäre dies schon immer seine Bestimmung gewesen. Abzutauchen an einen Ort, an den ihn die Schattenfinger seiner Jugend nicht erreichten. Aber es gab keinen Ort, der so tief verborgen lag, als dass er sich hätte in ihm verstecken können. Und die Schattenfinger der Erinnerung, diese dunklen Suchscheinwerfer, die ihn mit ihrem schwarzen Licht verfolgten, fanden ihn.

KAPITEL
ZWEIUNDZWANZIG
    Er stürzt einen Abhang hinunter, einen Abgrund, der sich plötzlich vor ihm öffnet, dreht sich, wirbelt, schlägt, prallt gegen Steine, Schutt, Erde, seine Finger greifen nach Halt, greifen ins Leere, er hört sichschreien. Schwärze. Als er die Augen aufschlägt, hört er die Stimme seines Bruders rufen. »Komm endlich, oder willst du dich den ganzen Tag ausruhen?« Scheiße, denkt Robert, gib mir fünf Minuten, aber er ist schon wieder auf den Beinen und schüttelt sich wie eine nasse Katze. Frank ist vielleicht hundert Meter voraus,

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