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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cyrus Darbandi
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Es war die Wahrheit, weil Robert über Selina Dinge wusste, die anderen verborgen blieben. Vorsprung durch Information.
    »Wie bitte?«
    Selina hob ihr Gesicht aus dem Glas. Sie trank bereits seit einigen Nächten zu viel. (Genaugenommen seit ihre Mutter den Weg in die lange Dämmerung angetreten hatte, aber es war nicht so, dass sie explizit die Tage an ihrem Kalender markierte und runterzählte wie eine Gefangene.) Es wurde immer schlimmer, fiel in ihren Kreisen aber auch nicht sofort auf, weil jeder becherte, Berlin, Party, Feiern, Trinken, das passte schon. Sie drehte ihr Gesicht in die Richtung der Stimme, der Kerl hatte sich direkt neben sie gesetzt, was ihr sonst überhaupt nicht gefiel, wenn sie dabei war, sich aus der Nacht zu trinken.
    Also, da unten liegen übrigens meine Selbstachtung, mein Mut, meine Kraft. Hey Fremder, sehen Sie mal genauer hin, da unten bin ich, das neben Ihnen ist nur mein Avatar, meine traurige 2.0 Version einer jämmerlichen Großstadtkatze.
    Und, immer noch interessiert?
    Ja, war er. Denn er sah ihr ins Gesicht, sah ihr direkt in die Augen, und was er sah, gefiel ihm sichtlich, und es gefiel ihr, wie er sie ansah, denn ansonsten hätte sie alle Schotten dicht gemacht und wäre abgetaucht in tiefere alkoholische Gewässer.
    »Wie kommen Sie denn nur auf so etwas?«
    Sie versuchte ganz brav, Wort an Wort zu reihen, aber diese kleinen Bastarde verließen ihre Zunge schwankend wie auf einer Planke in aufgewühlter See. Er nahm einen Schluck von seinem Whiskey und sagte, sie dabei nicht aus den Augen lassend: »Mit Verlusten kenne ich mich aus.«
    Sein Blick war warm und weich, er bohrte keine laserstrahlgeformten Löcher in ihren diamantharten Körper wie andereTypen, die sich an ihr aufschlitzten, wenn sie partout keine Lust hatte, weder zum Reden noch zum Vögeln; das eine tat sie im Job, das andere, weil sie damit die klaffenden Spalten in ihrem Leben zukleisterte. Ein Blick, als öffnete jemand ein Fenster zum Sommer hin, gebündeltes Licht, das sich vom Osten her über die Welt ergießt, ein Blick, sein Blick, und es gefiel ihr immer noch und immer mehr, und sie spürte jenseits der Taubheit, die der Alkohol wie selbstverständlich, weil gewünscht und erhofft in ihr aktivierte, ein ganz bestimmtes Kribbeln, und das machte sie nicht nur geil, sondern auch wütend darauf, dass sie geil wurde. Wieso nur reagierte ihr verschissener Körper auf jeden gutaussehenden Kerl? O ja, und der hier sah auf eine männlich-erwachsene und vor allem, im Gegensatz zu ihr, in nicht gespielter Selbstsicherheit gut aus, kein Vergleich zu den Boheme- und Hipster-Schlappschwänzen mit ihren Second-Hand-Erfahrungen, die gar keine waren, sondern nur Nacherzählungen von Erzählungen von Erfahrungen, die einer mal gemacht hatte, und obwohl sie ja eigentlich dazugehörte, Teil dieses urbanen Netzwerkes war, fühlte sie sich tatsächlich alleine und verdammt dazu, alleine zu sein. Dass sie mit vielen dieser Männer (und manchmal, wenn sie in der entsprechenden Stimmung war, auch mit Frauen) schlief, bedeutete nun wirklich nichts.
    Als wäre ein warmer Körper neben einem schon der Beweis dafür, nicht einsam zu sein.
    Und was war mit ihm hier?
    Jedenfalls war er interessant genug, um ihn sich näher anzusehen. Imposant, aber die Zeit macht auch vor dir nicht Halt, dachte sie. Da war eine Ernsthaftigkeit an ihm. Etwas Solides, Massives, etwas, worauf man bauen konnte. Mal sehen, dachte sie, die Nacht ist jung, ich bin betrunken, und meine Mutter stirbt schon viel zu lange, und wenn ich Glück habe oder Pech, sucht euch was aus, denn mir ist es gleich, dann stirbt sie, während ich einen Mörder-Orgasmus habe, der mich zu den Sternenschießt und Mama unter die Erde. Dann endlich kann ich vielleicht aufhören, mich beschissen zu fühlen. Oder vielleicht erst richtig damit anfangen.
    Und sie dachte:
    Stirb, Mutter.
    Stirb endlich, damit die Party weitergehen kann.
    Oder endet.
    Stirb, damit ich frei bin.
    Oder für immer gefangen in Träumen.
    Stirb, damit ich wieder atmen kann.
    Oder ersticke.
    Stirb.
    Stirb.
    Bitte.
    Nicht.
    Bitte.
    Mutter.
    Stirb.
    Nicht.
    War das anmaßend, unverschämt, verkorkst oder verzweifelt, oder alles zusammen?
    Tja, willkommen in meinem Leben, du großer Fremder.
    Manche Menschen zerfallen innerhalb weniger Tage und Wochen, andere zerbröckeln über Jahre hinweg, es kam auf die Umstände ihres Schmerzes, ihrer Verwirrung an, auf deren Größe und Dauer, auf die Art und Weise, wie

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