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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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herüber und ließ seine Spinne direkt vor meinem Gesicht baumeln. Ich zuckte zusammen und schlug sie weg, worüber er sich königlich amüsierte. »Dir werd ich’s schon noch zeigen«, flüsterte ich und versuchte dann, mich wieder auf das »Verlorene Paradies« zu konzentrieren.
Somnolent
hieß mein Wort des Tages. Es bedeutet »stark schläfrig« und eignete sich gut, um dieses langweilige. endlose Gedicht zu beschreiben. Milton wollte uns einen Blick in die Hölle werfen lassen, sagte Miss Wilcox, und das ist ihm gelungen. Aber die Hölle waren nicht die
diamantharten Ketten,
auch nicht der
immer brennende Schwefel
oder das
sichtbare Dunkel.
Die Hölle bestand in der Erkenntnis, daß man erst bei Zeile 325 von Buch Eins war und daß es noch elf weitere Bücher gab.
Qualen ohne Ende,
das stimmte. Dennoch gab es keinen Ort, an dem ich lieber hätte sein mögen als in diesem Schulhaus, und ich hätte nichts lieber getan, als zu lesen, ganz gleich, um was es sich handelte … aber John Milton war eine Prüfung. Was um alles in der Welt fand Miss Wilcox so interessant an ihm? Sein Satan erschreckte niemanden und wirkte mit seiner Phrasendrescherei, seinem Herumkritteln und seinem Dogmatismus eher wie ein Korinthenkacker als der Fürst der Finsternis.
    Fiesole, Valdarno, Vallombrosa …
Wo zum Teufel sind diese Orte?
fragte ich mich. Warum hatte Satan nicht die North Woods besuchen können? Old Forge. zum Beispiel, oder sogar Eagle Bay. Warum redete er nicht wie normale Leute und warf nicht ab und zu ein
Mensch
oder
Jesses
ein? Warum wurden die kleinen Städte in Herkimer County nie in einem Buch erwähnt. Warum waren es immer andere Orte und andere Leben, die eine Rolle spielten?
    French Louis Seymour vom West Canada Creek. der es geschafft hatte, ganz allein in einer tückischen Wildnis zu überleben, Mr. Alfred G. Vanderbilt aus New York City und Raquette Lake, der reicher war als Gott und in seinem eigenen Pullman-Wagen reiste. und Emmie Hubbard aus der Uncas Road, die betrunken die schönsten Bilder malte und anschließend verbrannte, wenn sie wieder nüchtern war, waren für mich zehnmal interessanter als Miltons Teufel, Austens mannstolle Mädchen oder dieser verrückte Narr bei Poe, dem kein besserer Platz einfiel, um eine Leiche zu verbrennen, als unter seinem verdammten Fußboden.
    Â»Und warum lesen wir Shakespeare, Milton und Donne? Diesmal nicht schon wieder Miss Gokey. Mr. Bouchard?« fragte Miss Wilcox.
    Mike Bouchard wurde blutrot. »Ich weiß nicht. Ma’am.«
    Â»Nur Mut, Mr. Bouchard. Wagen Sie eine Vermutung.«
    Â»Weil wir müssen, Ma’am?«
    Â»Nein, Mr. Bouchard, weil es Klassiker sind. Und wir müssen uns mit den Klassikern vertraut machen. wenn wir die Werke verstehen wollen, die auf sie folgen, und wenn wir bei unseren eigenen literarischen Bemühungen Fortschritte machen wollen. Literatur verstehen ist wie ein Haus bauen, Mr. Bouchard. Man baut ja auch nicht den dritten Stock zuerst, sondern beginnt mit dem Fundament …«
    Miss Wilcox stammt aus New York City. Bei uns hier oben baute man nie einen dritten Stock, außer man war so reich wie die Beckers oder besaß drei Sägemühlen wie mein Onkel Vernon.
    Â»â€¦ wo wäre Milton ohne Homer, Mr. James Loomis? Und Mary Shelley ohne Milton, Mr. William Loomis? Nun, ohne Milton wäre Victor Frankensteins Monster nie geschaffen worden …«
    Bei der bloßen Erwähnung des magischen Wortes
Frankenstein
richteten die Loomis-Brüder sich auf. Jim wurde so aufgeregt, daß er seine Spinne losließ. die, ihre Leine hinter sich herschleifend, zum Rand seiner Bank krabbelte und verschwand. Seit November hatte Miss Wilcox versprochen, als letztes Buch dieses Jahres
Frankenstein
mit uns zu lesen, vorausgesetzt. daß sich alle, insbesondere Jim und Will, gut benahmen. Sie mußte den Namen
Frankenstein
bloß flüstern, und die beiden waren mucksmäuschenstill und aufmerksam wie zwei Ministranten. Die Vorstellung. tote Dinge zusammenzunähen, begeisterte sie. Pausenlos redeten sie von Fröschen und Kröten, die sie töten wollten, nur um sie hinterher wieder zum Leben zu erwecken.
    Â»â€¦ und wir lesen die Klassiker, um von den Gedanken großer Geister inspiriert zu werden …«, fuhr Miss Wilcox fort, als plötzlich ein leises Klirren ertönte. Sie hatte ihre Armreifen wieder

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