Das Licht des Nordens
herüber und lieà seine Spinne direkt vor meinem Gesicht baumeln. Ich zuckte zusammen und schlug sie weg, worüber er sich königlich amüsierte. »Dir werd ichâs schon noch zeigen«, flüsterte ich und versuchte dann, mich wieder auf das »Verlorene Paradies« zu konzentrieren.
Somnolent
hieà mein Wort des Tages. Es bedeutet »stark schläfrig« und eignete sich gut, um dieses langweilige. endlose Gedicht zu beschreiben. Milton wollte uns einen Blick in die Hölle werfen lassen, sagte Miss Wilcox, und das ist ihm gelungen. Aber die Hölle waren nicht die
diamantharten Ketten,
auch nicht der
immer brennende Schwefel
oder das
sichtbare Dunkel.
Die Hölle bestand in der Erkenntnis, daà man erst bei Zeile 325 von Buch Eins war und daà es noch elf weitere Bücher gab.
Qualen ohne Ende,
das stimmte. Dennoch gab es keinen Ort, an dem ich lieber hätte sein mögen als in diesem Schulhaus, und ich hätte nichts lieber getan, als zu lesen, ganz gleich, um was es sich handelte ⦠aber John Milton war eine Prüfung. Was um alles in der Welt fand Miss Wilcox so interessant an ihm? Sein Satan erschreckte niemanden und wirkte mit seiner Phrasendrescherei, seinem Herumkritteln und seinem Dogmatismus eher wie ein Korinthenkacker als der Fürst der Finsternis.
Fiesole, Valdarno, Vallombrosa â¦
Wo zum Teufel sind diese Orte?
fragte ich mich. Warum hatte Satan nicht die North Woods besuchen können? Old Forge. zum Beispiel, oder sogar Eagle Bay. Warum redete er nicht wie normale Leute und warf nicht ab und zu ein
Mensch
oder
Jesses
ein? Warum wurden die kleinen Städte in Herkimer County nie in einem Buch erwähnt. Warum waren es immer andere Orte und andere Leben, die eine Rolle spielten?
French Louis Seymour vom West Canada Creek. der es geschafft hatte, ganz allein in einer tückischen Wildnis zu überleben, Mr. Alfred G. Vanderbilt aus New York City und Raquette Lake, der reicher war als Gott und in seinem eigenen Pullman-Wagen reiste. und Emmie Hubbard aus der Uncas Road, die betrunken die schönsten Bilder malte und anschlieÃend verbrannte, wenn sie wieder nüchtern war, waren für mich zehnmal interessanter als Miltons Teufel, Austens mannstolle Mädchen oder dieser verrückte Narr bei Poe, dem kein besserer Platz einfiel, um eine Leiche zu verbrennen, als unter seinem verdammten FuÃboden.
»Und warum lesen wir Shakespeare, Milton und Donne? Diesmal nicht schon wieder Miss Gokey. Mr. Bouchard?« fragte Miss Wilcox.
Mike Bouchard wurde blutrot. »Ich weià nicht. Maâam.«
»Nur Mut, Mr. Bouchard. Wagen Sie eine Vermutung.«
»Weil wir müssen, Maâam?«
»Nein, Mr. Bouchard, weil es Klassiker sind. Und wir müssen uns mit den Klassikern vertraut machen. wenn wir die Werke verstehen wollen, die auf sie folgen, und wenn wir bei unseren eigenen literarischen Bemühungen Fortschritte machen wollen. Literatur verstehen ist wie ein Haus bauen, Mr. Bouchard. Man baut ja auch nicht den dritten Stock zuerst, sondern beginnt mit dem Fundament â¦Â«
Miss Wilcox stammt aus New York City. Bei uns hier oben baute man nie einen dritten Stock, auÃer man war so reich wie die Beckers oder besaà drei Sägemühlen wie mein Onkel Vernon.
»⦠wo wäre Milton ohne Homer, Mr. James Loomis? Und Mary Shelley ohne Milton, Mr. William Loomis? Nun, ohne Milton wäre Victor Frankensteins Monster nie geschaffen worden â¦Â«
Bei der bloÃen Erwähnung des magischen Wortes
Frankenstein
richteten die Loomis-Brüder sich auf. Jim wurde so aufgeregt, daà er seine Spinne loslieÃ. die, ihre Leine hinter sich herschleifend, zum Rand seiner Bank krabbelte und verschwand. Seit November hatte Miss Wilcox versprochen, als letztes Buch dieses Jahres
Frankenstein
mit uns zu lesen, vorausgesetzt. daà sich alle, insbesondere Jim und Will, gut benahmen. Sie muÃte den Namen
Frankenstein
bloà flüstern, und die beiden waren mucksmäuschenstill und aufmerksam wie zwei Ministranten. Die Vorstellung. tote Dinge zusammenzunähen, begeisterte sie. Pausenlos redeten sie von Fröschen und Kröten, die sie töten wollten, nur um sie hinterher wieder zum Leben zu erwecken.
»⦠und wir lesen die Klassiker, um von den Gedanken groÃer Geister inspiriert zu werden â¦Â«, fuhr Miss Wilcox fort, als plötzlich ein leises Klirren ertönte. Sie hatte ihre Armreifen wieder
Weitere Kostenlose Bücher