Das Licht des Nordens
weiter. Wir überqueren das vordere Rasenstück und gehen zum See hinunter. Ãber die Schulter blicke ich zurück. Das Glenmore ist hell erleuchtet. Auf der Terrasse kann ich Leute erkennen. Die Zigarren der Herren leuchten wie Glühwürmchen im Dunkeln, die Damen in ihren weiÃen Sommerkleidern sehen wie Geister aus.
Am Seeufer angekommen, sage ich: »Warte, Hamlet!« Geduldig bleibt er stehen, während ich eine Handvoll Steine aufhebe. »Jetzt komm«, befehle ich ihm und führe ihn auf den Anlegesteg. Er macht ein paar Schritte, die Krallen an seinen Pfoten verursachen ein klickendes Geräusch auf den Planken, dann bleibt er stehen. Er mag es nicht, wie sich der Anlegesteg auf dem schwappenden Wasser bewegt. »Na komm schon. Junge. Alles in Ordnung. Laà uns nachsehen, obâs Eistaucher gibt, die du anbellen kannst. Das würde dir doch gefallen, nicht? Komm, Hamlet ⦠guter Hund«, versuche ich ihn zu überreden, aber er macht keinen Schritt weiter. Also ziehe ich meine Trumpfkarte und hole einen kalten Pfannkuchen aus meiner Tasche. Worauf er mir bereitwillig folgt.
Ich spüre, wie mir beim Gehen â eindringlich mahnend â die Briefe gegen das Bein schlagen. Aber ich werde sie bald los sein. Das Ende des Anlegestegs ist nur noch drei Meter entfernt. Ich muà nichts tun. als das Band zu lösen, mit dem sie verschnürt sind. ein paar Steine in einen der Umschläge stecken, das Bündel wieder zuschnüren und ins Wasser werfen. Es ist zwar nicht ganz das, worum Grace Brown mich gebeten hat, aber es muà auch so gehen. Am Ende des Anlegestegs ist der See vier Meter tief â weiter drauÃen noch tiefer â und ich kann gut werfen. Niemand wird sie je wieder finden.
Am Ende des Stegs angekommen, lasse ich Hamlets Leine los und trete mit dem Fuà darauf, damit er nicht fortlaufen kann. Doch gerade als ich die Briefe aus der Tasche ziehen will, sagt eine Stimme aus der Dunkelheit: »Gehst du schwimmen, Matt?«
Ich erschrecke mich so sehr, daà ich aufschreie und alle meine Steine fallen lasse. Beim Blick nach rechts sehe ich Weaver, immer noch in seiner schwarzen Kellnerjacke und mit hochgekrempelter Hose, am Rand des Stegs sitzen.
»Weià Royal, daà du ihn betrügst?« fragt er und macht mit dem Kopf ein Zeichen in Hamlets Richtung.
»Sehr witzig, Weaver! Du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Tut mir leid.«
»Was machst du hier drauÃen?« frage ich, und im gleichen Moment fällt mir ein, daà ich die Antwort bereits kenne. Er kommt inzwischen jeden Abend hierher, um zu trauern. Daran hätte ich mich erinnern sollen.
»Ich hab mir das Boot angesehen«, antwortet er. »Das Boot, mit dem das Paar hinausgefahren ist. Die
Zilpha
hat es zurückgeschleppt.«
»Wo ist es?«
»Da.« Er zeigt ans andere Ende des Stegs, wo ein Ruderboot vertäut ist. Es hat keine Kissen und keine Ruder mehr. »Nach dem Abendessen bin ich in den Salon gegangen und hab sie mir angesehen«, fährt er fort und starrt auf den See hinaus. Dann schlieÃt er die Augen. Als er sie wieder öffnet, sind seine Wangen naÃ.
»Ach Weaver, nicht«, flüstere ich und berühre seine Schulter.
Er greift nach meiner Hand. »Ich hasse diesen Ort, Mattie«, sagt er. »Er tötet alles.«
Fahl
Früher habe ich mich oft gefragt, was passieren würde. wenn Romanfiguren ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen könnten. Etwa, wenn die Dashwood-Schwestern Geld gehabt hätten? Vielleicht wäre Elinor auf Reisen gegangen und hätte Mr. Ferrars grübelnd im Salon zurückgelassen. Wenn Catherine Earnshaw Heathcliff einfach gleich geheiratet und damit allen eine Menge Kummer erspart hätte? Wenn Hester Prynne und Dimmesdale an Bord dieses Schiffs gegangen wären und Roger Chillingworth weit hinter sich gelassen hätten? Manchmal taten mir diese Figuren leid, weil sie nie aus ihren Geschichten würden ausbrechen können, doch andererseits, wenn sie mit mir hätten reden können, hätten sie mir wahrscheinlich gesagt, daà ich mir mein Mitleid und meine Herablassung sparen könne, weil ich es ja auch nicht schaffte.
So zumindest kam es mir bis Mitte April vor. Eine Woche war vergangen, seit ich den Brief vom Barnard College erhalten hatte, dennoch war mir noch immer keine Möglichkeit eingefallen, wie ich dorthin kommen konnte. Wahrscheinlich müÃte ich eine
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