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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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zu können. Er beugte sich vor und schlang die Arme um die Knie. Er wandte mir das Profil zu, doch dann drehte er sich um und lächelte mich an. Mir stockte der Atem, und ich fragte mich, ob es sich so anfühlte, wenn man hübsch war.
    Â»Gehst du je zum Beerenpflücken, Matt? Ich geh gern am Abend, wenn es kühler wird und die Zikaden zu singen anfangen. Ist dir schon mal aufgefallen, wie gut dann alles riecht? Ich wart auf die wilden Stachelbeeren. Dürft nicht mehr lang dauern. Von den Ablegern, die ich vor ein paar Jahren eingesetzt hab, sind ein paar was geworden, aber die Beeren sind vor Ende Juni nicht reif. Letztes Jahr hab ich eine Unmenge von diesen Sträuchern gehabt. Mein Pa hat die Beeren auf seine Milchrunden mitgenommen. Die Köchin bei Dart’s hat gemeint, es seien die süßesten, die sie je bekommen hat. Mit dem Geld, das ich dieses Jahr damit verdien, kauf ich neue Hühner. Das ist praktisch geschenktes Geld, das Beerengeld. Und das Pflücken is’ eigentlich auch keine Arbeit, wenn man nach Sonnenuntergang draußen auf den Feldern sein kann …«
    Mir fiel auf, daß Royal Loomis wie ein Wasserfall redete. In all den Jahren, die ich ihn kannte, hatte ich ihn noch nie so viel reden hören. Wahrscheinlich hatte ich nie das richtige Thema angeschnitten. Aber sobald die Rede auf Landwirtschaft kam, wurde er geradezu poetisch. Zum ersten Mal sah ich in sein Herz. Und ich fragte mich, ob er je tief genug blicken wollte, um zu sehen, was in meinem war.
    Als er mit seinen Ausführungen über Hühner. Käse und Beeren fertig war, ergriff ich das Wort. Ich erzählte von meinen Prüfungen und den Noten, die ich bekommen hatte, stellte aber fest, daß ihn das langweilte. Ich erzählte ihm von dem Buch, das ich gerade las, aber auch das langweilte ihn. Also erzählte ich ihm übers Barnard. Und daß, obwohl meine Tante mir das Geld nicht leihen würde und mein Onkel sein Versprechen gebrochen hatte, und ich wisse, daß ich nicht hingehen könne, ich es mir trotzdem immer noch wünschte.
    Â»Und gehst du?« fragte er.
    Â»Ich würde gern …«
    Â»Aber warum? Warum willst du das? Bis nach New York City gehen, bloß um Bücher zu lesen?«
    Â»Damit ich lernen kann, eines Tages vielleicht selbst welche zu schreiben, Royal. Das hab ich dir doch schon gesagt«, antwortete ich und wünschte mir plötzlich, er würde mich verstehen. Ganz verzweifelt wünschte ich mir das. Aber er hörte mir gar nicht zu, weil er viel zu beschäftigt war, selbst zu reden.
    Â»Warum kannst du die Bücher nicht hier lesen. Schule ist doch rausgeworfenes Geld, und New York is’ ein gefährlicher Ort.«
    Â»Ach, laß gut sein«, antwortete ich verärgert. »Ich wünschte, ich hätte gar nicht damit angefangen. Du hörst ja nicht mal zu.«
    Er rückte näher, bis seine Knie die meinen berührten. »Ich hab gehört, was du gesagt hast, aber es ergibt einfach keinen Sinn. Warum willst du immer über das Leben anderer Leute lesen, Matt? Ist dir dein eigenes nicht gut genug?«
    Ich antwortete nicht, weil ich wußte, wenn ich es getan hätte, hätte meine Stimme gezittert. Wie sich herausstellte, war das auch gar nicht nötig, weil er mich küßte. Obwohl ich ihm gesagt hatte, daß ich das nicht wollte. Er küßte mich, ich erwiderte seine Küsse, und das war Antwort genug.
    Kindliche, harmlose Küsse am Anfang, und dann ein wirklich tiefer. Er legte die Arme um mich und drückte mich so eng an sich, wie das in einem Ruderboot möglich ist, und es fühlte sich gut an. Niemand hatte mich seit dem Tod von Mama so fest an sich gedrückt. Ich wünschte, ich könnte beschreiben, wie ich mich fühlte. Mein Wort des Tages,
augurieren,
was Dinge aufgrund von Omen weissagen bedeutet, hatte damit nichts zu tun, soweit ich sehen konnte. Ich fühlte mich warm in seinen Armen. Warm, hungrig und blind.
    Er ließ seine Hände zu meinen Brüsten hinabgleiten. Diesmal ging er sanfter vor als beim ersten Mal. und mir stockte der Atem, aber ich schob ihn dennoch weg, weil es so hart ist, immer und immer wieder Dinge zu wollen, die man nicht haben kann.
    Â»Hör auf, Royal, oder ich spring aus dem Boot, das schwör ich dir.«
    Â»Laß mich, Mattie«, flüsterte er. »Ein Junge und ein Mädchen dürfen das tun … wenn sie miteinander gehen.«
    Ich

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