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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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flüsterte Lou kichernd. »Genau wie Pa auf dem Abtritt!«
    Â»Sei still, Lou!« zischte ich und hoffte, Miss Wilcox hatte nichts gehört. »Geh nach hinten.« Das tat sie. allerdings erst nachdem sie sich gebückt und flink wie ein Wiesel Miss Wilcox’ Zigarettenkippe aufgehoben hatte. Ich streckte die Hand danach aus, aber sie schob sie in ihre Tasche und reckte mir aufmüpfig das Kinn entgegen.
    Als wir saßen, legte Miss Wilcox den Gang ein und fuhr los. »Hübscher Wagen, nicht?« rief sie und drehte sich zu mir um. »Brandneu. Davor hatte ich einen Packard. Als ich in New York lebte. Aber fürs Land ist ein Ford besser.«
    Ich nickte und hielt den Blick geradeaus gerichtet. Einer von uns mußte das ja.
    Â»Es ist wunderschön hier in den Wäldern«, sagte Miss Wilcox und wich einem Eichhörnchen aus. »Solche Freiheit! Man kann tun, was man will, und niemand kümmert sich darum.«
    Nein, bloß daß sie sich das Maul zerreißen!
dachte ich.
    Mein Wort des Tages,
nachlesen,
im Sinn von sammeln, ist ein gutes Wort. Es hat eine ganz simple Bedeutung – die Ähren eines Feldes sammeln, nachdem es abgeerntet wurde. Es ist ein Begriff aus der Landwirtschaft, kann aber auch in anderen Zusammenhängen benutzt werden. Tante Josie hat noch nie in ihrem Leben auf einem Feld gearbeitet, aber sie ist eine Nachleserin. Sie kämmt alles durch, was Leute abgesondert haben – Andeutungen, Gerede, fallengelassene Worte – und sucht nach Bruchstücken von Informationen, die sie dann zusammenzusetzen versucht, um eine ganze Geschichte herzustellen.
    Miss Wilcox fuhr aus Eagle Bay hinaus und dann eineinhalb Meilen die Straße nach Inlet hinauf. Das alte Foster-Haus am Fourth Lake ist eine einstöckige Blockhütte mit einem Steinfundament. Dr. Foster war ein unverheirateter Arzt aus Watertown, der die North Woods liebte und sich nach seiner Pensionierung hier oben einen großen Sommersitz baute. Das Wort
Sommersitz
hat für verschiedene Leute verschiedene Bedeutungen. Pa und Lawton verstehen darunter eine einfache Hütte. Leute aus der Stadt aber verstehen darunter ein richtiges Haus mit allem Komfort, das äußerlich wie eine Blockhütte erscheint. Tante Josie hat mir einmal gesagt, daß Mr. John Pierpont Morgan kristallene Champagnerkelche in seiner Blockhütte am Lake Mohegan habe, außerdem ein SteinwayKlavier, Telefone in jedem Zimmer und ein Dutzend Bedienstete. Und Mr. Alfred G. Vanderbilt hat massivgoldene Wasserhähne an seinem Waschbecken im Sagamore. Dr. Foster lebt nicht mehr. Seine Schwester hat das Haus geerbt und vermietet es. Für gewöhnlich nur im Sommer und an große Familien mit genug Kindern, Großeltern und Tanten und Onkeln, damit sie die Zimmer und die Terrasse bevölkern, aber meine Lehrerin wohnte das ganze Jahr über hier und hatte es ganz für sich allein.
    Miss Wilcox fuhr in die Einfahrt, die sich hufeisenförmig bis hinters Haus erstreckte, und wir gingen nach drinnen. Die Blockhütte hatte eine richtige Klingel, und Lou fragte, ob sie klingeln dürfe, was sie dann so lange tat, bis ich sie fortzog. Im Innern war es kühl und dunkel und roch nach Ölseife. Überall lagen Teppiche, die Wände waren bis auf halbe Höhe verkleidet. und dicke Samtvorhänge schlossen die Außenwelt aus. An den Wänden hingen Bilder von Rehen und Forellen, gerahmte Spiegel und hübsche weiß-blaue Teller. Es war sehr schön, aber vor allem war es ruhig. So ruhig, daß man die Uhr aus dem übernächsten Zimmer ticken, die Dielen unter den Füßen knarren und die eigenen Gedanken im Kopf hören konnte. In unserem Haus war es nie so still.
    Miss Wilcox führte uns aus der Diele an Räumen vorbei, die aussahen, als würde sie nie jemand betreten, in eine riesige, makellos weiße Küche, die aussah. als würde nie jemand darin kochen. Dort machte sie sich daran, kleine Sandwiches mit abgeschnittener Rinde für uns zu belegen, holte winzige Törtchen mit Zuckerguß aus einer Dose und setzte Tee auf. Ich versuchte, ihr zu helfen, aber sie ließ mich nicht.
    Â»Wohnt hier sonst niemand, Miss Wilcox?« fragte Lou mit Blick auf den blitzsauberen Herd, den glänzenden Boden und die lackierten Schränke ohne Fingerabdrücke oder zerbrochene Türknöpfe.
    Â»Lou …«, sagte ich warnend.
    Â»Nein, Lou. Nur ich.«
    Darauf fragte Lou:

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