Das Licht des Nordens
»Waren Sie böse, Miss Wilcox?«
Miss Wilcoxâ Messer fiel klappernd auf die Küchentheke, und sie drehte sich zu meiner Schwester um. »Böse?« fragte sie. »Lou ⦠warum fragst du mich das?«
»Wenn ich böse war, hat mich meine Mama immer ganz allein ins Wohnzimmer gesetzt. Eine Stunde lang. Bei geschlossener Tür. Es war schrecklich. Werden Sie bestraft? Leben Sie deswegen ganz allein hier?«
Miss Wilcox griff sich an den Hals, wo sich ihre Finger in eine Bernsteinkette schlangen. »Ich lebe gern allein, Lou«, sagte sie. »Ich mag die Ruhe und die Einsamkeit. Ich muà eine Menge lesen, verstehst du. Und während des Schuljahrs meine Stunden vorbereiten.«
Lou nickte, wirkte aber nicht überzeugt. »Wenn Sie sich je einsam fühlen sollten, könnten wir Ihnen Barney vorbeibringen. Unseren Hund. Er könnte Ihnen Gesellschaft leisten. Er hat Blähungen, ist aber trotzdem ein netter Hund. Er tät nicht aufs Sofa pinkeln oder so was. Er sieht gar nicht gut genug, um es zu finden â¦Â«
»Lou!« zischte ich.
»Was? Ach herrjeh â¦
würde nicht.
Er würde nicht. muà es heiÃen.«
Ich sah, daà Miss Wilcox sich bemühte, nicht zu lachen, aber ich fand es nicht komisch. Kein biÃchen. Lou weià ganz genau, daà sie keine persönlichen Fragen stellen und nicht über Barneys Blähungen reden soll. Sie weiÃ, was gute Manieren sind. Mama hat ihr dasselbe beigebracht wie uns. Aber Lou giert nach Aufmerksamkeit. Egal welcher Art. Sie und Pa waren früher unzertrennlich, aber jetzt sieht er einfach durch sie hindurch. Durch uns alle. Ich weiÃ, daà sie das verletzt, also versuche ich, ihr nicht böse zu sein, aber manchmal geht sie einfach zu weit.
»Sollen wir unseren Lunch mit in die Bibliothek hinübernehmen?« fragte Miss Wilcox und sah uns beide an.
»Wohin? Aufs Pökelboot?« fragte Lou verwirrt.
Dafür tadelte ich sie nicht, denn ich hatte mir die gleiche Frage gestellt.
Diesmal lachte Miss Wilcox tatsächlich. »Nein, hier im Haus. Kommt mit.«
Sie stellte die Sandwiches zusammen mit ein paar Tellern und Servietten auf ein Tablett, führte uns dann aus der Küche einen anderen Gang entlang und durch eine Reihe hoher Türen hindurch.
Was ich dann zu sehen bekam, lieà mich wie angewurzelt stehenbleiben: Bücher. Nicht bloà ein oder zwei Dutzend, sondern hunderte. In Kisten, in Stapeln auf dem Boden und in Bücherregalen, die bis zur Decke reichten und alle Wände einnahmen. Ich drehte mich langsam im Kreis und fühlte mich, als wäre ich plötzlich in Ali Babas Höhle. Mir stockte der Atem. fast kamen mir die Tränen, und ich geriet in einen regelrechten Taumel.
»Möchtest du dich nicht setzen und deinen Lunch essen, Mattie?« fragte Miss Wilcox.
Aber essen war das letzte, was ich im Sinn hatte. Und ich verstand nicht, wie Miss Wilcox essen, unterrichten. schlafen oder überhaupt einen Grund finden konnte. diesen Raum zu verlassen. Nicht bei all den Büchern. die einen geradezu anflehten, gelesen zu werden.
»Sind das alles Dr. Fosters Bücher?« fragte ich flüsternd.
»Nein, sie gehören mir. Ich hab sie mir aus der Stadt heraufschicken lassen. Allerdings komme ich nie dazu. sie richtig zu ordnen, deshalb dieses Chaos.«
»Es sind so viele, Miss Wilcox.«
Sie lachte. »Eigentlich nicht. Du und Weaver, ihr habt sicher schon die Hälfte gelesen.«
Aber das stimmte nicht. Es gab Dutzende von Autoren, deren Namen ich nicht kannte. Eliot. Zola. Whitman. Wilde. Yeats. Sand. Dickinson. Goethe. Und die lagen auf einem einzigen Stapel! Es gab Lebensgeschichten in diesen Büchern und Todesfälle. Familien. Freunde, Liebhaber und Feinde. Freud und Leid. Eifersucht, Neid, Wahnsinn und Wut. Das alles lag vor mir. Ich streckte die Hand aus und berührte eines mit dem Titel »Die Erde«. Fast war mir, als könnte ich die Figuren darin hören, wie sie mich ungeduldig drängten, den Buchdeckel zu öffnen und sie herauszulassen.
»Du kannst dir ausleihen, was du willst, Mattie«, hörte ich Miss Wilcox sagen. »Mattie?«
Ich stellte fest, daà ich mich unhöflich benahm, also zwang ich mich, den Blick von den Büchern loszureiÃen und auf den Rest des Raums zu richten. Es gab einen groÃen Kamin mit zwei Sofas davor, zwischen denen ein niedriger Tisch stand. Lou saà auf einem davon,
Weitere Kostenlose Bücher