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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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stopfte sich mit Sandwiches voll und schlürfte ihren Tee. Unter einem Fenster stand ein Schreibtisch mit Federn, Stiften und einem Stoß gutem Papier darauf. Ich berührte das oberste Blatt. Es fühlte sich wie Seide an. Ein paar weitere Blätter, die offensichtlich mit Gedichten beschrieben waren, lagen achtlos über den Tisch verstreut. Miss Wilcox kam herüber und schob sie zusammen.
    Â»Tut mir leid«, sagte ich erschrocken. »Ich wollte nicht herumschnüffeln.«
    Â»Ist schon gut. Das ist bloß hingekritzeltes Zeug. Möchtest du nichts essen?«
    Ich setzte mich, nahm ein Sandwich, und um Konversation zu machen, sagte Miss Wilcox, sie habe mich neulich mit einem großen, gutaussehenden Burschen auf einem Wagen gesehen.
    Â»Das ist Royal Loomis. Mattie ist verknallt in ihn«, antwortete Lou.
    Â»Bin ich nicht«, warf ich schnell ein. Was natürlich nicht stimmte. Ich war völlig verschossen in ihn. wollte aber nicht, daß meine Lehrerin das wußte. Ich war mir nicht sicher, ob sie verstand, was bernsteinfarbene Augen, starke Arme oder Küsse in einem Boot bedeuteten, und befürchtete, sie könnte enttäuscht von mir sein, weil ich mich von solchen Dingen ablenken ließ.
    Miss Wilcox zog eine Augenbraue hoch.
    Â»Bin ich nicht. Ich mag keinen von den Jungs hier in der Gegend.«
    Â»Warum nicht?«
    Â»Ich glaube, daß es schwer ist, nach Captain Wentworth und Colonel Brandon noch jemanden zu mögen«, antwortete ich und versuchte mein Bestes. weltläufig zu klingen. »Jane Austen verdirbt einen ein für allemal für Bauernjungen und Holzfäller.«
    Miss Wilcox lachte. »Jane Austen verdirbt einen auch für alles andere. Magst du ihre Bücher?«
    Â»Ich mag sie einigermaßen.«
    Â»Bloß ›einigermaßen‹? Warum nicht sehr?«
    Â»Nun, Ma’am, ich glaube, sie lügt.«
    Miss Wilcox stellte ihre Teetasse ab. »Wirklich?«
    Â»Ja, Ma’am.«
    Â»Warum glaubst du das, Mattie?«
    Ich war nicht daran gewöhnt, daß Erwachsene mich nach meiner Meinung fragten – nicht einmal Miss Wilcox –, und es machte mich nervös. Ich mußte mich zuerst sammeln, bevor ich antwortete. »Also mir scheint. es gibt Bücher, die Geschichten erzählen, und dann gibt es welche, die die Wahrheit sagen .«, begann ich.
    Â»Sprich weiter.«
    Â»Die erste Sorte zeigt einem das Leben, wie man es haben möchte. Mit Schurken, die bekommen, was sie verdienen, und einem Helden, der einsieht, was für ein Narr er war, einer Heldin, die heiratet, und einem Happy-End und all dem. Wie in
Vernunft und Gefühl
oder
Überredungskunst.
Aber die zweite Sorte zeigt das Leben eher, wie es wirklich ist. Wie in
Huckleberry Finn,
wo Hucks Pa ein verkommener Säufer ist und Jim so leidet. Die erste Sorte macht einen fröhlich und zufrieden, aber die zweite wühlt einen auf.«
    Â»Die Leute mögen Happy-Ends, Mattie. Sie möchten nicht aufgewühlt werden.«
    Â»Wahrscheinlich nicht, Ma’am. Es ist nur so, daß es keine Captain Wentworths gibt, oder? Aber eine Menge Pap Finns. Und am Ende wird für Anne Elliott alles gut, für die meisten Leute aber nicht.« Meine Stimme zitterte, genauso wie sie es tat, wenn ich zornig war. »Ich fühle mich manchmal betrogen. Die Leute in den Büchern – die Helden – sie sind immer so … heroisch. Ich versuche das auch, aber …«
    Â»â€¦ du bist es nicht«, sagte Lou und leckte sich fein gehackten Schinken von den Fingern.
    Â»â€¦ nein, das bin ich nicht. Die Leute in Büchern sind edel, vornehm und selbstlos, aber so sind die Menschen nicht … und ich fühle mich manchmal … übers Ohr gehauen. Von Jane Austen und Charles Dickens und Louisa May Alcott. Warum stellen Schriftsteller die Welt so harmonisch dar, wenn sie es gar nicht ist?« fragte ich zu laut. »Warum sagen sie nicht die Wahrheit? Warum erzählen sie nicht, wie ein Schweinestall aussieht, nachdem die Sau ihre Ferkel gefressen hat. Oder wie es für eine Frau ist, wenn ihr Baby nicht rauskommen will? Oder daß Krebs einen bestimmten Geruch hat. Unter diesen ganzen Büchern, Miss Wilcox«, sagte ich auf einen Stapel deutend, »gibt es sicher nicht eines, das einem sagt, wie Krebs riecht. Aber ich kann’s. Er stinkt. Wie verdorbenes Fleisch, schmutzige Kleider und Sumpfwasser zusammen. Warum sagt einem das

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