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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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niemand?«
    Eine Weile schwiegen alle. Ich konnte das Ticken der Uhr hören und das Geräusch meines eigenen Atems. Dann sagte Lou ruhig: »Mensch, Mattie. Du solltest nicht so reden.«
    Ich stellte fest, daß Miss Wilcox nicht mehr lächelte. Ihr Blick fixierte mich, und ich war sicher, daß sie mich auch für morbid und entmutigend hielt wie Miss Parrish es getan hatte, und daß sie mich loswerden wollte.
    Â»Tut mir leid, Miss Wilcox«, sagte ich und sah zu Boden. »Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich … ich weiß einfach nicht, warum es mich interessieren soll. was mit Leuten in einem Salon in London oder Paris geschieht, wenn sich niemand an diesen Orten darum kümmert, was mit den Leuten in Eagle Bay passiert.«
    Miss Wilcox’ Blick war noch immer auf mich gerichtet, nur daß ihre Augen jetzt feucht glänzten. Wie an dem Tag, als ich den Brief vom Barnard bekam. »Mach. daß sie sich kümmern, Mattie«, sagte sie leise. »Und leid braucht dir gar nichts zu tun.«
    Sie warf einen Blick auf Lou, stellte den ganzen Teller mit Törtchen vor sie, dann erhob sie sich und winkte mich zum Schreibtisch hinüber. Dort hob sie einen gläsernen Briefbeschwerer hoch, der die Form eines Apfels hatte, und nahm zwei Bücher darunter heraus.
»Therese Raquin«,
sagte sie ernst, »und
Tess of the D’ürbervilles.
Sag lieber niemandem, daß du sie hast.« Dann nahm sie ihr Schreibpapier aus der Schachtel, legte die beiden Bücher hinein, deckte ein Blatt Papier darüber und gab sie mir.
    Ich lächelte und fand, daß sich meine Lehrerin ziemliche Umstände machte. »Mein Gott, Miss Wilcox, das sind doch keine Waffen.«
    Â»Nein, Mattie, das sind Bücher. Und hundertmal gefährlicher.« Dann warf sie einen schnellen Blick zu Lou hinüber und fragte mich: »Hat es irgendeinen Fortschritt gegeben?«
    Â»Nein, Ma’am. Und wahrscheinlich gibt es auch keinen.«
    Â»Würdest du dann in Erwägung ziehen, für mich zu arbeiten? Ich brauche Hilfe mit meiner Bibliothek. wie du sehen kannst. Ich möchte, daß du kommst und meine Bücher ordnest. Zuerst sortierst du sie nach Belletristik und Sachbüchern, dann unterteilst du die Belletristik in Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Lyrik und ordnest alles alphabetisch ein. Ich bezahle dich dafür. Jedesmal einen Dollar.«
    Wir hatten erst Anfang Mai. Wenn ich den ganzen Sommer über einmal die Woche für Miss Wilcox arbeitete, hätte ich bis September an die siebzehn Dollar zusammen. Genug für eine Bahnfahrkarte und mehr. Ich wollte so gern ja sagen, aber dann hörte ich Royal wieder fragen, warum ich ständig über das Leben anderer Leute las, und spürte seine Lippen auf meinen. Ich hörte meine Tante sagen, daß ich endlich von meinem hohen Roß steigen solle, und Pa, daß ich nicht zu Miss Wilcox zur Arbeit zu gehen brauchte. weil es in meinem eigenen Haus genug zu tun gab. Und ich hörte meine Mama, die mich bat, ihr ein Versprechen zu geben.
    Â»Ich kann nicht, Miss Wilcox«, erwiderte ich. »Ich kann nicht weg.«
    Â»Sicher kannst du das, Mattie. Nur für eine oder zwei Stunden. Ich fahr dich nach Hause. Komm nächsten Samstag.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich muß mich um die Hühner kümmern. Der Hühnerstall muß geweißelt werden, und Pa hat gesagt, daß das bis Sonntag geschehen sein muß.«
    Â»Das mach ich, Matt«, sagte Lou. »Ich, Abby und Beth. Pa erfährt nichts davon. Er ist dann sowieso beim Pflügen. Er wird nicht zur Rute greifen, solang die Arbeit getan wird.«
    Ich sah meine Schwester an, die eigentlich gar nichts hätte mitkriegen sollen. Ich sah die Krümel um ihren Mund, das glatte Haar, das ihr ins Gesicht hing, und den schmutzigen Saum von Lawtons Hemd, der ihr bis zu den Stiefeln hinabreichte. Ich sah ihre großen. erwartungsvollen blauen Augen und liebte sie so sehr. daß ich den Blick abwenden mußte.
    Â»Wenn du kommst, kannst du dir ausleihen, was du willst, Mattie. Wirklich alles«, sagte Miss Wilcox.
    Ich stellte mir vor, wie ich am Samstagnachmittag in diesem ruhigen stillen Raum war, unter all den Büchern herumstöberte und wie eine Ährenleserin meine Schätze sammelte.
    Dann lächelte ich und willigte ein.

De • his• zenz
    Es war sieben Uhr an einem Maiabend. Nachdem das Essen gekocht, das Geschirr

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