Das Licht des Nordens
Respekt und Gehorsam versprechen müssen? Dürften dann nur Frauen wählen?
Mir schmerzte der Kopf von Emily Baxters Gedichten. Sie warfen so viele Fragen und Möglichkeiten auf. Sie zu lesen, war genauso, als zöge man einen Baumstumpf aus. Man bekommt eine Wurzel zu fassen und zieht an, in der Hoffnung, sie lieÃe sich ganz einfach lösen, aber manchmal reichten sie so tief hinein und verzweigten sich so sehr, daà man schon fast bei der Loomis-Farm war und immer noch zog.
Ich holte tief Luft. Ich roch nasse Erde, Immergrün und einbrechende Dunkelheit, und das beruhigte mich ein wenig. Aber ich war schrecklich aufgewühlt. Hinter Eagle Bay gab es eine andere Welt mit Menschen wie Emily Baxter darin, die all das dachten, was man nicht denken sollte. Und dies auch noch aufschrieben. Und als ich las, was sie geschrieben hatten, wollte ich in dieser anderen Welt sein. Selbst wenn es bedeutete. die meine zu verlassen. Auch meine Schwestern. Und meine Freunde. Und Royal.
Ich hörte auf herumzugehen, verschränkte die Arme und rieb mich warm. Mein Blick fiel auf den Grabstein meiner Mama. ELLEN GOKEY, GELIEBTE FRAU UND MUTTER, GEBOREN 14. SEPTEMBER 1868, GESTORBEN 11. NOVEMBER 1905. Ihr Mädchenname war Robertson, aber den wollte Pa nicht auf dem Grabstein haben. Ihr Vater hatte sie enterbt, weil sie meinen Pa geheiratet hatte. Er hatte die Verbindung verboten, aber meine Ma stellte sich gegen ihn. Sie erzählte gern die Geschichte ihrer jungen Liebe mit Pa. Pa mochte diese Geschichten nicht und verlieà immer den Raum, wenn sie damit anfing. Aber uns gefielen sie. Vor allem die eine, wie sie ihn das erste Mal in der Sägemühle ihres Vaters am Raquette River sah. Er balancierte mit einem anderen Holzfäller auf einem Stamm und versuchte, ihn herunterzuwerfen. Wer verlor, muÃte dem anderen sein Halstuch geben. Mein Pa bemerkte, daà meine Mutter zusah, warf den anderen Mann ins Wasser und gab ihr sein Halstuch. Sie wurde damit begraben.
Mama erzählte uns auch gern, wie Pa im Wald mitten im Winter unter einem schneebedeckten Fichtenast um ihre Hand anhielt. Und wie er ihr in der Nacht. als sie durchbrannten, sagte, sie solle nur eine Stofftasche mitnehmen. »Pack nur die wichtigsten Dinge ein«, hatte er gesagt und gedacht, sie würde verstehen. daà er Kleider, Stiefel und Unterwäsche meinte, aber sie war so jung und leichtsinnig, daà sie ihre Lieblingsbücher, eine Schachtel Karamelbonbons und ihren Schmuck mitnahm. Er muÃte sofort ein goldenes Armband verkaufen, um ihr Kleider zu besorgen. Eigentlich wollte er die Bücher verkaufen, aber das lieà sie nicht zu.
Es fiel mir schwer, meinen Pa in diesen Geschichten wiederzuerkennen, bei meiner Mutter jedoch fiel mir das ganz leicht. Ich vermiÃte sie ständig, und im Moment vermiÃte ich sie ganz besonders. Ich fragte mich, was sie von Emily Baxter halten würde. Ich fragte mich, ob sie mich tadeln würde, weil ich solch ein Buch las, oder ob sie den Finger auf den Mund legen, lächeln und sagen würde: »Sag Pa nichts davon«, wie sie es tat, wenn sie das Geld, das er ihr für Nägel und Farbe gegeben hatte, für Bänder und SüÃigkeiten ausgab.
Mit dem Finger fuhr ich den Namen meiner Mutter auf dem kalten, grauen Stein nach und lieà meine Lieblingserinnerungen an sie in mir aufsteigen. Ich sah sie vor mir, wie sie uns abends aus »Kleine Frauen. oder »Der Letzte Mohikaner« vorlas oder Geschichten aus
Petersons Magazine,
wie »Tante Betseys beste Haube« oder »Flirten auf Schlittschuhen«. Ich sah sie, wie sie die Gedichte las, die ich ihr zum Valentinstag und zum Geburtstag geschrieben hatte. Sie sagte immer, daà ich wirklich schön schreibe, genauso schön wie die Gedichte auf den Glückwunschkarten bei Cohenâs in Old Forge. Sogar genauso schön wie Louisa May Alcott.
Ich erinnerte mich an ihr Singen beim Kochen. Und wie sie im November lächelnd im Keller stand, angesichts all der Vorräte, die sie eingelagert hatte. Ich erinnerte mich, wie sie uns hübsche Frisuren flocht und auf Schneeschuhen durch die winterlichen Felder stapfte. um Emmie Hubbards Kindern einen Eintopf zu bringen. Ich bemühte mich sehr, nur an die guten Dinge zu denken. Wie sie war, bevor sie krank wurde. Den Rest hätte ich gern weggeschnitten, wie der Arzt den Krebs aus ihr herausschneiden wollte, aber das gelang mir nicht. Egal, wie sehr ich
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