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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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unbestimmbare Besorgnis.
    Er atmete langsamer, versenkte sich in die Tiefen seines Bewusstseins und bat Keldes um eine Vision, die ihm helfen könnte zu erkennen, was im Tempel nicht stimmte.
    Er sah das Zeichen der Götter, den heiligen Knoten um eine Silberdistelblüte. Die Distel wuchs in einem Steinbruch und die Felswände des Steinbruchs waren geschmückt mit den Gravuren der tiefen Kammer des Orakels.
    Sobald die Vision erschien, erkannte Renchald ihre Bedeutung: Die Alabasterkammer des Orakels wurde benutzt, obwohl niemand an der Reihe war, sich dort aufzuhalten. Die Person, die dort schlief, war weder ein Priester noch eine Priesterin.
    Die Tochter des Steinhauers.
    Renchald riss die Augen auf. Keldes gib mir Kraft!
    Es schien unmöglich. Vielleicht hatte er sich geirrt.
    Seine Fähigkeit zu prophezeien hatte sich verringert.
    Aber nein, seine Vision war zu realistisch gewesen. Er spürte das Prickeln der Wahrheit auf der Haut.
    Aber wie war sie dorthin gekommen f Warum hatte sie niemand aufgehalten?
    Er brach die Meditation ab. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er zur Tür und öffnete sie. Ilona, die Erste Priesterin, stand im Flur neben einem schweigenden Soldaten der Wache. Sie verbeugte sich sofort: Die Erste Priesterin erweist dem Meisterpriester die Ehre. Automatisch verbeugte sich Renchald zum Gegengruß.
    »Das Orakel ruft«, sagte sie. »Aber es hat den Schleier vorgezogen. Ich kann nicht wahrnehmen, mit wem es spricht.«
    »Die Tochter des Steinhauers schläft in der Alabasterkammer«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Bringt sie zu mir.«

 
7
     
    Bryn fühlte sich in dem großen Sessel verloren. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, zu begreifen, dass sie hier im Allerheiligsten des Meisterpriesters war, in das die Erste Priesterin sie gebracht hatte. Sie war von ihr geweckt worden, als sie auf der goldenen Liege geschlafen hatte.
    An den Wänden neben ihr reihten sich Wandteppiche mit den Bildern der Götter, jeder umsäumt mit schwerem roten Satin. Sie suchte Solz, den Gott des Lichts, doch stattdessen sah sie Keldes, den Gott des Todes. Und in der Ecke stand auf einem großen weißen Sockel ein massiger Geier aus schwarzem Marmor, der so naturgetreu wiedergegeben war, dass Bryn fast schon erwartete, er würde gleich auf sie zu fliegen und sich auf ihre Kehle stürzen.
    Aus einem anderen Sessel blickte die Erste Priesterin sie mit tiefgründigen Augen an. Von nahem wirkte sie sogar noch würdevoller als neben dem großen Altar des Orakels. Mit dem dunklen Zopf, der wie eine schimmernde Krone um ihren Kopf lag, der dunklen Haut, die im Morgenlicht, das durch die Fenster hereinfiel, leuchtete, den hohen Wangenknochen und den ausgeprägten Lippen erinnerte sie an das Wandbild von Ellerth, der Göttin der Erde. Der Meisterpriester hatte das magere Gesicht in die Hand gestützt und betrachtete sie beide.
    Bryn hatte das Gefühl, ihr Gürtel würde sie einschnüren, doch sie trug gar keinen, sie war noch nicht einmal richtig angezogen. Sie steckte immer noch in ihrem einfachen Baumwollnachthemd. Als sie schlucken wollte, fühlte sich ihr Mund ebenso trocken an wie bei dem Ritt durch die Wüste. Sie hätte gerne um etwas zu trinken gebeten, doch was war, wenn sie beschlossen hatten, ihr wieder kein Wasser zu geben? Denn es war ganz klar, dass sie unbekannte Regeln verletzt hatte.
    »Erzähle uns, wie du in die tiefe Kammer des Orakels gekommen bist«, sagte Renchald.
    In die Armlehnen ihres Sessels waren Muster geschnitzt. Bryn drückte ihre Fingerspitzen in die Rillen der Schnitzereien. »Ich bin hinter …« Noch während sie anfing zu sprechen, dachte Bryn, wie töricht sich das anhören musste. Ich bin hinter der Distelwolle hergegangen.
    Er würde sie für schwachsinnig halten.
    »Du bist hinter – was?«
    Bryn schluckte. »Ich bin hinter einem Licht hergegangen.« Das war jedenfalls die Wahrheit. Sie musste ja nicht sagen, dass das Licht von einer Wolke von Distelwolle kam. Außerdem, das wurde ihr gerade klar, wollte sie nicht, dass er jemals etwas davon erfuhr.
    »Ein Licht? Wo hast du es gesehen?«
    »Vor mir, Euer Ehren. Es führte mich durch die Gänge und die Treppen hinunter.«
    »Und niemand hat dich aufgehalten?« Seine Stimme klang eisig.
    »Ich habe niemand gesehen, Herr.«
    »Du bist einem Licht vom Saal der Helferinnen bis in die Alabasterkammer nachgegangen?«
    Sie hatte also Recht gehabt. Ein Raum aus Alabaster.
    »Ja. Ich hab mich nur für einen Augenblick auf die Liege legen

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