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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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Cleas Mund sich triumphierend zu einem spöttischen Grinsen verzog, während sie Worte sprach, die Bryn nicht hören konnte.
    Ein Fluch. Sie verflucht mich!
    Bryn blies die widerwärtige Luft aus der Nase und hielt den Atem an, um dem krank machenden Gestank des Geiers zu entgehen. Sie schloss die Augen, um nicht sehen zu müssen, wie die entsetzliche Feder unbekannte Muster in die Luft webte. Während sie mit letzter Kraft versuchte, die Beine zu bewegen, spürte sie Panik aufkommen.
    »Du kannst jetzt wieder atmen.« Die Wörter waren ziemlich klar zu verstehen, das Dröhnen in Bryns Ohren hatte aufgehört. Sie schlug die Augen auf. Clea schob ihre Feder gerade wieder in das Etui.
    Bryn schnappte nach Luft und wollte sich auf Clea stürzen, ihr die Feder aus der Hand reißen und sie in den Boden stampfen. Aber ihr Körper war so schlapp wie ein totes und gerupfte Huhn.
    Clea beugte sich weit zu ihr hinunter, mehr denn je einen verächtlichen Ausdruck in ihren kornblumenblauen Augen. »Morgen im Weissagungsunterricht bist du die Schlechteste.« Sie schob das lange schwarze Etui wieder in ihren Ausschnitt. »Und wenn du irgendwem was erzählst, belege ich deine Freunde mit tödlichen Flüchen.«
    Sie trat auf Bryns Hand, das trockene Laub knisterte unter ihren Fingern. »Glaub bloß nicht, ich würde das nicht tun.«
    Bevor sie hinter dem Felsen verschwand, warf sie etwas auf den Boden. Es kullerte auf Bryn zu und blieb bei ihren Füßen liegen. Eine frisch aufgeschnittene Zwiebel.
    Bryn starrte darauf, auf die durchsichtige Haut und die feinen weißen Ringe. Damit also hatte Clea sich selbst so überzeugend zum Weinen gebracht.
     
    Dawn ließ den Eingang zum Speiseraum der Helferinnen nicht aus den Augen. »Hat irgendjemand Bryn gesehen?«
    »Das hast du uns jetzt schon dreimal gefragt«, meinte Alyce.
    »Da stimmt was nicht. Ich geh sie suchen.« Dawn rutschte von der Bank.
    In diesem Augenblick trat Bryn durch die Tür. Ihr einfacher beiger Umhang aus Tempelbeständen hing von einer Schulter herab und schleifte über den Boden, doch sie schien das nicht zu bemerken.
    Trockenes Laub und Schmutz klebten an ihren Schuhen und ein Zweig hatte sich in ihren schlaff herabhängenden Zöpfen verfangen.
    Ihr Gesicht war totenblass, nur die Augen, die noch größer waren als sonst, stachen hervor – Bryn sah aus, als wäre sie fast blind.
    Dawn eilte zu ihr. »Was ist mit dir?«
    Bryns Mundwinkel hingen herunter. Sie gab keine Antwort.
    Hinter sich hörte Dawn Gekicher. Sie wirbelte herum und sah Cleas und Eloises grinsende Gesichter. Wie immer saßen sie am Kopfende eines langen Tisches und führten die hochrangigen Federn an, die alle folgsam über Bryns Zustand lachten.
    Dawn führte Bryn zu dem Tisch mit ihren Freundinnen. Ausdruckslos blickte diese auf einen leeren Teller.
    Alyce und Willow hatten besorgt zu essen aufgehört.
    »Was haben sie mit dir gemacht?«, fragte Dawn und versuchte, Bryn dazu zu bringen, sie anzusehen. Bryn hielt den Blick gesenkt und schüttelte nur den Kopf.
    »Keldes hat Ellerth heute geschwächt«, murmelte Dawn und Furcht machte ihr das Herz eng.
    Mit langsamen Bewegungen zog Bryn den Vorhang zu und sagte Dawn gute Nacht. Sie stellte die Kerze auf das schmale Nachttischchen, streifte die Schuhe ab und hängte ihr Gewand in den hölzernen Kleiderschrank.
    Im Nachthemd saß sie auf dem Bett, zog die Beine an und legte die Arme um die Knie. In ihrem Kopf hallten Cleas Worte nach: Morgen im Weissagungsunterricht bist du die Schlechteste … Wenn du irgendwem was erzählst, belege ich deine Freunde mit tödlichen Flüchen.
    Bryn wollte die Kerze nicht ausblasen. Sie hatte das Gefühl, die ganze Welt würde für immer dunkel, wenn sie das tat. Die Schatten, die das kleine Licht warf, zeichneten sich unheimlich drohend auf dem Vorhang ab, schwankend wie Cleas Feder.
    Dann zischte die Flamme und verlöschte.
    Bryn zitterte, als sie sich hinlegte und die Decke hochzog. Sie erinnerte sich an eine andere Nacht, eine Nacht, in der ein silbriges Licht ihre von Vorhängen umgebene Nische erhellte. Licht, das von einer Wolke aus Distelwolle stammte.
    Und sie erinnerte sich an Kirans Worte: Wenn du dieses Licht jemals wieder siehst, musst du ihm folgen. Ganz egal, wohin es dich leitet.

 
11
     
    Am Morgen ging Bryn nicht zu Kiran, um ihren Aufgaben nachzukommen. Das Frühstück rührte sie kaum an.
    Sie trank Wasser und betete darum, dass die kühle Flüssigkeit irgendwie die Macht hätte, sie von Cleas

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