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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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aufstehen, um noch vor dem Gong mit dem Putzen der Latrinen fertig zu sein. Das Putzwasser war eiskalt und bei der Arbeit dachten sie sich ausgefallene Flüche für Clea und Eloise aus. Clea soll in einer Latrine wohnen. Eloise soll einem Specht begegnen, der sie für einen Baumstamm hält.
    Brock machte mit seinem Grinsen und seinen Spaßen
    bei jeder Gelegenheit weiter. Er stellte allen Lehrern so lange Fragen, bis sie mit ihrer Geduld am Ende waren.
    Und dann lachte er über ihr mürrisches Gesicht und über die Strafen, die er bekam. Er prophezeite mit Energie und Leidenschaft, aber er bekam immer wieder Arger, weil er Visionen hatte, die kaum etwas mit dem zu tun hatten, was Ilona als Aufgabe gestellt hatte. Auch die Tatsache, dass seine Weissagungen nahezu immer stimmten, hielt die Erste Priesterin nicht davon ab, ihm schlechte Noten zu geben, denn sie wollte, dass Brock den Anweisungen folgte. Doch der lockenköpfige Sohn eines Schmieds lachte nur und ging seinen eigenen Weg.
    Kiran blieb während des Unterrichts oft schweigsam.
    Er verhielt sich so anders als Brock, dass alle außer Bryn völlig überrascht waren, als die beiden jungen Männer, der vom Schwan Erwählte und der von der Eule Erwählte, Freunde wurden.

 
     
     
Herbst
     
     
     
     
10
     
    Einen Tagesritt nördlich des Tempels, in der Stadt Bewel am Rand der Lydenwüste, tauchte Selid ihre Feder in die Tinte.
    Sie hatte sich einen Ruf als Kalligraphin erworben, aber das war ihr gar nicht so lieb, denn sie befürchtete, damit die Aufmerksamkeit des Tempels auf sich zu ziehen. Natürlich nannte sie ihren Kunden nie ihren richtigen Namen, alle kannten sie nur als Zera.
    Mehr als ein halbes Jahr war seit ihrem Martyrium in der Wüste vergangen, aber noch immer wachte Selid manchmal auf, weil sie glaubte, den Gong des Tempels zu hören. Dann schlug sie die Augen auf und vergewisserte sich, dass sie neben ihrem Mann Lance lag, einem Schreiner aus Bewel, den sie mit aller Zärtlichkeit liebte und dem sie verschwieg, dass sie Keldes, dem Herrn des Todes, geweiht war.
    Hätte ihr nicht eine ihr unbekannte Helferin Wasser gegeben, würden ihre Knochen inzwischen kahl gefressen langsam im Wüstensand versinken. Oft dachte sie an die Freundlichkeit des Mädchens und hoffte, dass sie nicht zu schwer bestraft worden war.
    Zuerst hatte Selid versucht, die Liebe des Schreiners zurückzuweisen, denn sie wusste, dass jeder weitere Tag, den sie lebte, nur von Keldes geliehen war – durch die Gnade Monzapels, der Göttin des Mondes, die sie geleitet und geschützt hatte. Es war ungewiss, wie lange die Göttin sich noch für sie einsetzen konnte. Der feine Silberfaden, der Selid am Leben erhielt, würde eines Tages reißen. Sie wusste nur nicht wann.
    Lance hatte sich nicht entmutigen lassen. Vielleicht
    hatte er von Anfang an gewusst, dass sie nur so tat, als wäre er ihr nicht so wichtig wie sie ihm. Lance hatte den Schmerz gelindert, den Selid darüber empfand, aus dem Tempel verstoßen worden zu sein.
    In letzter Zeit hatte sie gespürt, dass Keldes sie jagte.
    Der Herr des Todes war immer wieder in ihren Träumen mit Renchalds Gesicht erschienen. War das eine Vorahnung? Suchte der Meisterpriester sie? Selid wusste es nicht. Vielleicht glaubte er, sie wäre gestorben. Früher hatte er geglaubt, sie würde Erste Priesterin. Ob er sich daran erinnerte, dass er sie gelehrt hatte, sich vor anderen Propheten, die vielleicht nach einem suchten, zu verbergen? Er hatte das »einen ätherischen Schutzmantel umlegen« genannt. Diese Technik wandte sie täglich an, ohne zu wissen, ob sie wirksam war. Das Einzige, dessen sie sicher sein konnte, war, dass ihr Talent zu prophezeien trotz des Verlusts ihrer Feder nicht schwächer geworden war.
    Ja, die Prophezeiung war ihr gefolgt, hatte die schmerzhafte geheime Zeremonie, bei der sie Keldes geweiht worden war, und alles, was danach kam, überlebt.
    Ein roter Kardinal lebte in den Zweigen der Fichte vor dem Haus. Seitdem sie nicht mehr zum Tempel gehörte, hatte Selid erfahren, dass sie keine Teeblätter brauchte, um Visionen zu haben. Sie kamen von alleine, ungerufen, mitten auf dem Markt oder tief in der Nacht.
    Nun zog sie die Kerze etwas näher und spitzte ihre Feder an. Schon vor Stunden war Lance, während sie schrieb, ins Bett gegangen. Er war der Meinung, dass es die Augen zu sehr anstrengte, bei Kerzenlicht zu arbeiten, doch sie liebte die Ruhe der Nacht.
    Wüsste Lance, was sie gerade schriebe, würde ihm das

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