Das Licht des Orakels
Solche Freundinnen würden das sicher nicht verstehen.
Selbst schuld. Du hast dir deine Freundinnen selbst ausgesucht.
Clea beruhigte sich etwas. »Niemand erwartet irgendetwas von dir«, sagte sie und klang schon wieder viel mehr nach sich selbst. »Das ist so ungerecht. Du wirst
vielleicht eines Tages Erste Priesterin und dir ist das ganz egal.«
Entschieden schüttelte Bryn den Kopf. »Ich werde nicht Erste Priesterin.«
»Nein? Hast du das gesehen?« Clea sprach von einer Vision.
»Ich hab es nicht gesehen«, sagte Bryn. »Aber ich weiß, dass ich das nicht werde.« Und ich hoffe, du auch nicht.
Clea tupfte sich das Gesicht mit dem Taschentuch ab.
»Mein Bruder hat Glück. Als Nächster in der Thronfolge verbringt er seine Zeit damit zu lernen, wie er sich zu benehmen hat, wenn er König wird. Von mir dagegen wird erwartet, dass ich Erste Priesterin werde.«
»Wieso soll er König werden? Ich habe gedacht, Prinzessin Zorienne würde langsam gesund.«
Clea warf den Kopf zurück. »Dieses kränkliche Ding?
Die wird die Königin nicht überleben. Das weiß doch jeder. Mein Bruder und ich sind die einzigen Nachkommen des großen Königs Zor.«
Bryn erinnerte sich schaudernd, was Kiran zu der Möglichkeit gesagt hatte, dass Raynor Errington König würde: Die Götter mögen uns allen beistehen, wenn das passiert.
Clea unterbrach Bryns Gedanken. »Zum Fest der Wintersonnenwende kommt mein Vater den Tempel besuchen. Er wird nicht gerade erfreut sein, dass die Tochter eines Steinhauers die beste Prophetin ist.« Sie rieb sich die Augen und erneut rannen Tränen über ihre Wangen.
Bryn fühlte, wie der alte Ärger wieder in ihr hochstieg.
Aber Clea sah mit ihrem tränenverschmierten Gesicht so unglückselig aus. »Keine Angst«, sagte Bryn freundlich.
»Beim Protokoll übertriffst du mich und alle anderen
weit, ganz zu schweigen von Rhetorik und Ritual. Und ist Lord Errington nicht völlig begeistert von deiner Feder? Du bist doch glücklich darüber, oder?«
Clea rutschte ein wenig und lehnte sich gegen den Fels hinter ihr. »Ja, ich würde sie gegen keine andere eintauschen.« Sie machte eine kurze Pause und sagte dann etwas freundlicher: »Möchtest du sie sehen?«
Bryn wich etwas zurück. Dawn hatte gesagt, dass nur sehr gute Freundinnen einander ihre Federn zeigten.
Wollte Clea sie wirklich zur Freundin? Und sie hatte keine eigene Feder zu zeigen, den Wind konnte sie nicht mit sich herumtragen.
Doch das war ihre Chance. Wenn Clea nicht mehr ihre Feindin war, würde Eloise vielleicht aufhören, Dawn und Jacinta zu schikanieren. Vielleicht würden auch die anderen Federn etwas erträglicher. »Ich denke schon«, sagte Bryn.
Clea spähte um den Felsen. »Hinter dir ist doch niemand, oder? Ich will nicht so gesehen werden.«
Bryn schüttelte verneinend den Kopf.
»Setz dich hier hin.« Clea klopfte neben sich auf den Boden. »Du kannst mir den Wind zeigen, wenn du meine Feder gesehen hast.«
Bryn sah sich um. Die Luft war frisch und ziemlich still. »Der Wind kommt zu mir, wenn er es will. Ich kann ihn nicht einfach rufen.«
Clea lächelte sie warm an. »Macht nichts. Ich will dir trotzdem meine Feder zeigen.«
Während sie zusah, wie sich Clea in den Ausschnitt griff, bekam Bryn ein ungutes Gefühl. Sie musste sich beherrschen, nicht einfach davonzulaufen, anstatt sich neben Clea zu setzen, wozu sie aufgefordert worden war.
Clea zog ein langes, schmales Etui hervor, das an einem kostbaren Kettchen aus Gold befestigt war. Sie löste die Kette und die roten Bänder oben auf dem Etui und zog eine grau schimmernde Feder mit schwarzem Rand heraus. »Siehst du?«, fragte sie, legte das Etui zur Seite und stand auf. Langsam schwenkte sie die Feder hin und her und es roch leicht nach Aas.
»Sie i-ist wunderschön«, sagte Bryn und erstickte fast an ihren eigenen Worten.
»Nicht wahr?« Cleas Stimme war nun nur noch die Freundlichkeit selbst. »Aber es wundert mich, dass du das auch findest.« Sie schwenkte die Feder etwas schneller. »Eloise hat gemeint, das würde schwierig werden.
Sie hat sich nicht vorstellen können, dass du so blöd wärst.«
Bryn schnappte nach Luft und atmete den Untergang ein. Ihre Arme und Beine fühlten sich auf einmal wie tot an und langsam kippte sie auf den Boden. Was war mit ihr? Was hatte Clea gerade gesagt? Sie wusste es nicht mehr. In ihren Ohren dröhnte es. Das Einzige, was sie noch tun konnte, war sehen. Sie sah die Feder sich unaufhörlich bewegen, sah, wie
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