Das Licht des Orakels
Verfluchung zu reinigen. Dawns besorgtes Flüstern hörte sie kaum und auf das unbestimmte Mitleid ihrer Freundinnen ging sie nicht ein.
Beim Weissagungsunterricht setzte sie sich auf ihren gewohnten Platz und wich Ilonas Blick aus. Sie sah auch keine der Federn an, vor allem nicht Clea. Sie hob den Blick nicht einmal, als Ilona von der außergewöhnlichen Bedeutung der heutigen Suche nach einer Vision sprach.
»Der Meisterpriester hat den Verdacht, dass jemand außerhalb des Tempels unerlaubt prophezeit«, verkündete die Erste Priesterin ernst. »Möglicherweise ist es ein bisher unentdeckter begabter junger Mensch, der hier im Tempel ausgebildet werden sollte. Es kann aber auch jemand sein, der wissentlich die Gesetze des Orakels verletzt. Eure Aufgabe ist es, nach einer Vision zu suchen, die Klarheit darüber bringt, wer und wo diese abtrünnige Person sein mag.«
Bryn studierte die Maserungen im Holz, die von einem Aststück in ihrer Tischplatte ausgingen. Ihr Herz schlug viel zu schnell.
»Wir haben keine Teeblätter, die uns leiten könnten«, fuhr Ilona fort. »Tut euer Bestes ohne sie.«
Bryn schloss die Augen, weil sie Angst hatte, die Erste Priesterin würde ihre Aufregung über das, was Renchald suchte, bemerken. An ihren Traum von Selid erinnerte
sie sich noch ganz genau und ebenso an das, was Kiran gesagt hatte: Es kann gut sein, dass Selid eine Prophezeiung geschrieben hat, als du sie gesehen hast …
Konzentriert wartete Bryn auf das Spiel von Licht und Farben, das sie in die Vision führen würde. Vielleicht wäre sie in der Lage, jemanden zu orten, der rechtmäßig zum Helfer oder zur Helferin werden könnte, um so Renchalds Gedanken von Selid abzulenken.
Nichts passierte. Das Blut pochte laut in Bryns Ohren.
Ihr Magen verkrampfte sich.
»Bryn? Bist du krank?« Ilona stand neben ihrem
Tisch, ihr ebenmäßiges Gesicht war ausdruckslos.
Bryn schüttelte den Kopf. Wenn Ilona bloß gehen und sie vergessen würde, doch die Erste Priesterin schob ein leeres Blatt Pergament näher an Bryns Hand und klopfte mit dem Elfenbeinstock darauf. Bryn sah zu den anderen Schülern, zu Ilona, auf die Stickerei an ihrem Ärmel. Als sie diese das erste Mal gesehen hatte, hatten die Fäden sie davongetragen, ihr den Wind gezeigt und ihr leise zugeflüstert, dass sie weissagen würde. Jetzt starrte sie sie an, doch die Stickerei wurde nicht lebendig.
Ich könnte die Vision von Selid aufschreiben. Sie würden niemals merken, dass ich jetzt nichts sehe.
Und warum nicht? Würden nicht andere sehen, was Bryn schon gesehen hatte, wissen, was sie wusste? Wen würde sie damit schützen, dass sie nichts sagte? Wenn sie sprach, rettete sie vielleicht sich selbst. Morgen im Weissagungsunterricht bist du die Schlechteste, hatte Clea gesagt. Wenn diese Worte sich heute nicht bewahrheiteten, würde der Fluch vielleicht abgeschwächt werden, vielleicht hätte Bryn eine Chance, das zurückzubekommen, was Clea ihr genommen hatte?
Erzähl es ihm nicht! Sonst wird sie meine Worte niemals lesen. Die Stimme in Bryns Kopf war so leise, dass sie klang wie das Flüstern einer Sterbenden.
»Wenn du nicht krank bist, schreibe deine Prophezeiung auf«, befahl Ilona.
Doch Selids tapferes Gesicht erschien vor Bryns Augen. Sie senkte den Kopf. »Ich habe keine Vision«, sagte sie.
Kiran pfiff nach Jack und sein Atem wirbelte rauchig zum verhangenen Himmel auf. Am Abend zuvor war der Hund nicht an seinem üblichen Platz gewesen, als Kiran, nachdem er den ganzen Nachmittag mit Brock gelernt hatte, nach draußen kam, um etwas Luft zu schnappen.
Überhaupt war das die längste Zeit, die er Jack nicht gesehen hatte, seit sie zusammen die Lydenwüste durchquert hatten. Damals war Jack ein halb ausgewachsener Welpe mit verschiedenfarbigen Augen gewesen, die den meisten Leuten unheimlich waren, und Kiran ein zwölfjähriger Junge, der gerade aus den Elendsquartieren des Ostlands kam. Er wäre niemals damit einverstanden gewesen, Jack zurückzulassen, und der Meisterpriester hatte ihm erlaubt, ihn mitzunehmen.
Kiran zog die Kapuze des Umhangs über den Kopf
und machte sich auf die Suche nach Jack. Während er dahintrottete, lauschte er auf dessen stille Sprache. Die Leute meinten immer, man könne die Sprache der Tiere wie menschliche Wörter hören. Wie dumm. Menschen waren die Einzigen, die sich Wörter und Sätze ausgedacht hatten und die Wahrheit mit Schichten und Schatten überlagerten. Nur Menschen logen, Tiere wussten gar
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