Das Licht des Orakels
ihr über immerwährende Theoreme.
Als der Abend näher kam, umringten die vier jungen Frauen Dawn. Bryn legte einen Arm um sie. »Sie mag dir für die Ewigkeit gehören, Avrohom, doch bis zum Abend gehört sie zu uns.«
»Wir helfen dir beim Ankleiden«, kündigte Jacinta an und lächelte Dawn zu.
»Danke für dein Angebot zu putzen, Kiran«, sagte Alyce. »Danke nicht nur mir«, meinte Kiran darauf.
»Brock hilft auch mit.«
»Was, ich?«, sagte Brock und spielte den Schockierten.
In der ersten Stunde des Weissagungsunterrichts im neuen Jahr ließ Bryn sich schwer auf ihren Platz fallen.
Ihre Vision zu entschlüsseln glich dem Versuch, eine Seite mit verschmierter Tinte zu lesen. Sie sah keinen Sinn darin, das Prophezeien fortzusetzen. Warum lerne ich überhaupt eines der Fächer, die im Tempel unterrichtet werden’? Ich werde nie eine Priesterin sein! Während des Mathematikunterrichts sprangen die Zahlen in ihrem Kopf herum wie Kieselsteine, die im Steinbruch mit dem Hammer zerkleinert werden. Geschichte fand sie faszinierend, hatte aber den Verdacht, dass vieles ausgelassen wurde. Geographie war auch interessant, doch da die meisten Helferinnen den Tempelbezirk nicht verließen, schienen die Flüsse, Berge und Meere weiter entfernt als der Mond und die Sterne. Weiter weg als Dawn.
Bryn hatte zugesehen, wie ihre Freundin aus dem Tempeltor geritten war, groß und aufrecht neben ihrem Mann, dem berühmten Troubadour. Ihre Haare waren von Bändern in einem Hochzeitsknoten zusammengehalten worden. Mit ihrer behandschuhten Hand hatte sie zum Abschied gewunken.
Bryn fummelte am ausgefransten Ende ihrer Schreibfeder herum. Als die Erste Priesterin die Prophezeiungen einsammelte, war ihr Pergament noch unbeschrieben.
Beim Ertönen des Gongs sagte Ilona zu ihr: »Bryn, bleibe nach dem Unterricht noch hier.«
Clea blieb neben ihr stehen. »Fühlst du dich gut, Bryn? Du siehst aus wie der Tod persönlich.«
»Besser als wie etwas zu riechen, das schon lange tot ist.«
Bryn ging nach vorne, wo die Erste Priesterin neben dem Marmortisch wartete, auf dem die Teekannen und Tassen standen, die für das Prophezeien eingesetzt wurden.
»Du kommst mit mir zum Meisterpriester«, sagt Ilona ruhig.
Bryn biss sich auf die Lippen. Ihre schwachen Leistungen beim Prophezeien mussten dem Meisterpriester aufgefallen sein. Sie war schon darauf gefasst, dass der Tempel ihr die Fortsetzung des Unterrichts mit den vom Vogel Erwählten untersagte. Sie hatte keine Feder und der Wind hatte sie verlassen.
Einen Augenblick lang dachte sie, Ilona wollte noch etwas sagen, doch die Erste Priesterin wandte sich nur um und ging mit der üblichen stillen Würde voraus.
Als sie dieses Mal Renchalds Allerheiligstes betrat, wusste Bryn, welche Verbeugung sie zu machen hatte: Bescheidene Schülerin grüßt den Meisterpriester des Orakels. Seitdem sie das letzte Mal auf demselben Platz vor Renchald gesessen hatte, war sie gewachsen. Heute fürchtete sie ihn viel mehr als damals. Sie wagte es kaum, ihn anzublicken. Als sie es doch tat, bemerkte sie, dass nun mehr Silber in seinem Haar zu sehen war und dass die Furchen in seinem ernsten Gesicht tiefer geworden waren.
»Vor anderthalb Jahren hast du den Tod Lord Morlens durch die Hand einer messerschwingenden jungen Frau vorhergesagt«, begann er. »Damals erschien dein Bericht unwahrscheinlich, doch wir haben Kunde aus Sliviia, dass Lord Morlen auf die Weise umgekommen ist, die du beschrieben hast.«
Bryn kamen die raschelnden Winde der Prophezeiung wieder in den Sinn, die Visionen, die sie gehabt hatte, während sie in der Alabasterkammer des Orakels schlief.
Solche Dinge schienen nun so weit weg. Es war, als hätte jemand anderes, nicht sie, die goldene Liege in dem schimmernden Raum gefunden. Inzwischen hatte sie gelernt, dass die Kammer in der Tiefe Priesterinnen und Priestern vorbehalten war, die sich einer speziellen Reinigung unterzogen hatten. »Dann stimmte die Vision also?«, fragte sie leise. Wenn Lord Morlen gestorben ist, dann muss der Traum von Selid auch eine wahre Vision gewesen sein. »Ja, du bist eine begabte Prophetin.«
Sie blickte in seine kühlen, undurchdringlichen Augen. »Vielleicht war ich das bei meiner Ankunft. Aber jetzt sehe ich nichts mehr klar.«
»Du bist beunruhigt«, sagte er. »Irgendetwas stört deine Prophezeiungen. Ich kann dir eine Methode beibringen, die die Klarheit deiner Visionen wiederherstellt.«
Beunruhigt durch einen Fluch, dachte sie. Wie
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