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Das Licht ferner Tage

Das Licht ferner Tage

Titel: Das Licht ferner Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke , Stephen Baxter
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Frisuren flatterten an der Grenze der Sichtbarkeit. Dann schien das Gesicht die Konturen zu verlieren und verschwamm – Babyspeck in der Pubertät? –, bevor es zu einem formlosen Kindergesicht wurde.
    Erneut erfolgte eine Zäsur, und seine Urgroßmutter erschien. Die junge Frau saß mit konzentriert gerunzelter Stirn in einem Büro. Ihre Frisur bildete eine geradezu alberne Skulptur aus geplätteten Locken. Im Hintergrund sah David weitere, überwiegend junge Frauen, die an Reihen von klobigen mechanischen Rechenmaschinen saßen und eifrig Tasten drückten und Hebel betätigten. Das mussten die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts sein, ein paar Jahrzehnte vor der Erfindung der Personal Computer. Der Raum war für die damalige Zeit wohl ein hochmodernes Rechenzentrum. Diese Vergangenheit, obwohl sie gerade einmal hundert Jahre zurücklag, mutete ihn schon archaisch an.
    Er befreite das Mädchen aus der Zeitfalle, und sie entwickelte sich explosionsartig zum Kind zurück.
    Bald schaute eine andere junge Frau auf ihn herab. Sie war mit einem langen Rock und einer schlecht sitzenden Bluse minderer Qualität bekleidet. Während sie heftig eine britische Flagge schwenkte wurde sie von einem Soldaten mit einem flachen Helm umarmt. Auf der Straße hinter ihr wimmelte es von Menschen. Die Männer trugen Anzüge, Mützen und Überzieher, die Frauen lange Mäntel. Es war ein trüber und regnerischer Herbsttag, was der guten Stimmung der Menschen aber keinen Abbruch tat.
    »November 1918«, sagte David laut. »Waffenstillstand. Das Ende eines vierjährigen blutigen Gemetzels in Europa. Keine schlechte Nacht, ein Kind zu zeugen.« Er drehte sich um. »Meinst du nicht auch, Bobby?«
    Der Schatten, der reglos an der Wand verharrte, schien zu zögern. Dann löste er sich von der Wand, bewegte sich und nahm die Konturen eines menschlichen Körpers an. Hände und Gesicht schälten sich aus der Dunkelheit und schwebten scheinbar körperlos im Raum.
    »Hallo, David.«
    »Setz dich neben mich«, sagte David.
    Sein Bruder folgte der Aufforderung, wobei das Gewebe der SmartShroud raschelte. Er wirkte verlegen, als ob er es nicht gewohnt wäre, ohne Tarnung jemandem so nah zu sein. Die Vorsicht war unbegründet; David wollte ihm schließlich nichts Böses.
    Das Gesicht des Waffenstillstand-Mädchens wurde immer glatter, schrumpfte aufs Format eines Kleinkinds, und dann erfolgte der nächste Übergang: Ein Mädchen, das mit den blauen Augen und dem strohblonden Haar aussah wie seine Großmutter. Nur dass sie schmaler und blasser war und hohle Wangen hatte. Sie verjüngte sich vor einem diffusen Hintergrund düsterer urbaner Impressionen – Fabriken und herrschaftliche Häuser – und verging in einem Kindheits-Blitz. Dann kam die vorherige Generation, ein anderes Mädchen, die gleiche triste Kulisse.
    »Sie sind so jung«, sagte Bobby mit kratziger Stimme, als ob die Stimmbänder geölt werden müssten.
    »Daran werden wir uns wohl gewöhnen müssen«, sagte David. »Wir befinden uns tief im neunzehnten Jahrhundert. Der medizinische Fortschritt hat noch nicht eingesetzt, und Hygiene ist für die meisten Menschen ein Fremdwort. Die Leute sterben an banalen heilbaren Krankheiten. Aber wir folgen einer Linie von Frauen, die immerhin lang genug gelebt haben, um das gebärfähige Alter zu erreichen. Von ihren Schwestern, die schon im Kindesalter gestorben sind, bekommen wir natürlich nichts mit.«
    Die Generationen wurden rasch abgespult; Gesichter schrumpften wie Ballons, aus denen man die Luft herausließ und wurden von der genetischen Drift unmerklich verändert.
    David sah ein Mädchen, dessen Gesicht tränenüberströmt war in dem Moment, wo sie ihr Kind gebar. Man hatte ihr das Kind nach der Geburt weggenommen, und in der zeitlichen Rückblende durchlebte sie eine Schwangerschaft in Scham und Elend, bis der entscheidende Augenblick in ihrem Leben nahte: Eine brutale Vergewaltigung, anscheinend durch einen Familienangehörigen, einen Bruder oder Onkel. Nachdem dieses dunkle Ereignis vergangen war, wurde das Mädchen zu einem hübschen und fröhlichen Kind, und trotz des Lebens in Armut und Schmutz lag ein Ausdruck von Hoffnung auf ihrem Gesicht. Sie hatte Freude an den einfachen Dingen des Lebens: an einer blühenden Blume, einer weißen Wolke am Himmel.
    Es musste unzähliger solcher Biografien geben, sagte David sich, derweil sie immer tiefer in die Vergangenheit eintauchten. Das Prinzip von Ursache und Wirkung kehrte sich um, und

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