Das Licht ferner Tage
meines Lebens noch jemanden interessiert im Vergleich zur Tatsache, dass ich einmal mit dem großen Hiram Patterson geschlafen habe.«
»Du arbeitest immer noch?« fragte er. »Obwohl…«
»Obwohl mein Leben eine einzige Katastrophe ist? Ich versuche es jedenfalls. Was bleibt mir auch anderes übrig? Ich will nicht über Hiram definiert werden. Nicht dass es leicht wäre. Alles hat sich so schnell verändert.«
»Die WurmCam?«
»Was sonst…? Anspruchsvolle Filme sind nicht mehr gefragt. Und das Drama ist ganz verschwunden. Wir sind alle von der Macht fasziniert, uns gegenseitig zu beobachten. Das einzige, womit man noch Geld verdienen kann, sind Doku-Soaps: Man beobachtet reale Menschen, wie sie ihr reales Leben leben – mit ihrer Zustimmung und Billigung natürlich. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedenkt, in welcher Lage ich mich befinde. Meinst du nicht auch? Schau.« Sie rief ein Bild auf der SoftScreen auf, eine lächelnde junge Frau in Uniform. »Anna Petersen. Frisch von der Marineakademie in Annapolis.«
Er lächelte. »Anna aus Annapolis.«
»Du erkennst unschwer, weshalb sie ausgewählt wurde. Wir beobachten Anna mit wechselnden Teams vierundzwanzig Stunden am Tag. Wir werden ihre Karriere auf den ersten Dienstposten verfolgen, ihre Erfolge und Niederlagen, Liebesglück und Liebesleid. Es heißt, sie wird mit der Einsatzgruppe zu den Brennpunkten des Wasserkriegs am Aralsee geschickt. Wir rechnen mit gutem Material. Die Marine weiß natürlich, dass wir Anna beobachten.« Sie schaute in die Luft. »Nicht wahr, Kameraden? Dann ist es vielleicht kein Wunder, dass sie diesen Auftrag erhalten hat, und zweifellos wird man uns reichlich pädagogisch wertvolle Kriegsberichterstattung präsentieren.«
»Du bist zynisch.«
»Das will ich nicht hoffen. Aber man gerät leicht in Versuchung. Die WurmCam ist der Totengräber meiner Karriere. Na gut, im Moment besteht noch Bedarf an Interpretation-Analysten, Redakteure, Kommentatoren. Aber selbst die werden verschwinden, wenn die breite Masse alles und jeden mit der WurmCam ins Visier nimmt.«
»Glaubst du, es wird soweit kommen?«
Sie schnaubte. »Soweit ist es schon – dafür haben die Personal-Computer vor einem halben Jahrhundert gesorgt. Es ist nur noch eine Frage der Geschwindigkeit. Durch den Konkurrenzdruck und gesellschaftliche Kräfte werden die WurmCams immer billiger und leistungsfähiger, und ihre Verbreitung wird ständig zunehmen, bis schließlich jeder eine hat.«
Und sich vielleicht mächtiger fühlt als du ahnst, dachte Bobby mit einem Gefühl des Unbehagens. Davids Zeitbetrachtungs-Experimente fielen ihm dabei ein.
»Erzähl mir von dir und Hiram.«
Sie lächelte müde. »Willst du das wirklich hören? Hier vor ›versteckter Kamera‹?«
»Bitte.«
»Was hat Hiram dir über mich berichtet?«
Langsam und stockend gab er die Darstellung seines Vaters wieder.
Sie nickte. »Dann war es wohl so.« Sie hielt seinem Blick für lange Sekunden stand. »Hör zu. Ich bin mehr als ein Anhängsel von Hiram oder eine Art Staffage für euer Leben. Das gleiche gilt für Mary. Wir sind Menschen, Bobby. Wusstest du eigentlich, dass ich ein Kind verloren habe und Mary einen kleinen Bruder?«
»Nein. Hiram hat mir nichts davon gesagt.«
»Ich bin sicher, dass er das nicht getan hat. Weil es nämlich nichts mit ihm zu tun hatte. Gott sei Dank sieht das niemand.«
Noch nicht, sagte Bobby sich düster.
»Ich möchte, dass du das weißt, Bobby.« Sie schaute in die Luft. »Ich will, dass jeder das weiß. Mein Leben wird durch Beobachtung zerstört, Stück für Stück. Nachdem ich meinen Jungen verloren hatte, habe ich mich versteckt. Ich habe alle Türen verschlossen, die Vorhänge zugezogen und mich sogar unter dem Bett verkrochen. Wenigstens gab es noch Momente der Privatsphäre. Aber jetzt nicht mehr. Nun kommt es mir so vor, als ob die Wände meines Hauses einseitig verspiegelt sind. Kannst du dir vorstellen, was für ein Gefühl das ist?«
»Ich glaube schon«, sagte er sanft.
»In ein paar Tagen wird der Fokus der Aufmerksamkeit weiterwandern und sich auf jemand anderen richten. Aber ich werde immer damit rechnen müssen, dass ein Irrer irgendwo auf der Welt noch nach Jahren mein Schlafzimmer ausspäht. Und selbst wenn die WurmCam morgen wieder verschwinden sollte, würde sie mir Desmond nicht zurückbringen.
Es ist für mich schon schlimm genug. Aber wenigstens weiß ich, dass es auf etwas zurückzuführen ist, das ich
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