Das Licht ferner Tage
die Gefallen daran fand, ihnen zuzusehen: Eine verknöcherte Frau im mittleren Alter etwa, die mit analytischem Blick diesen Unfug betrachtete.
Manche Kommentatoren sagten, es seien voyeuristische Neigungen, die nach der Markteinführung die Zahl der WurmCam- Anschlüsse in die Höhe getrieben hätten – wie Porno-Anbieter seinerzeit die Entwicklung der Internet-Infrastruktur vorangetrieben hatten. Gern hätte Heather geglaubt, dass ihre Mitmenschen inzwischen etwas nachdenklicher geworden waren. Oder blieb sie auch in dieser Hinsicht eine hoffnungslose Idealistin?
Der Voyeurismus diente aber nicht nur der Sinnesfreude. Jeden Tag gab es neue Meldungen über Leute, die aus dem einen oder anderen Grund ihnen nahestehende Personen ausspioniert und Geheimnisse, Intrigen und schleichende Zerrüttung entdeckt hatten. Was wiederum zu einer Zunahme der Scheidungen, der häuslichen Gewalt, der Selbstmorde und Zerwürfnisse zwischen Freunden, Ehepaaren, Geschwistern, Kindern und Eltern geführt hatte: Da mussten wohl viele Altlasten in vielen Beziehungen beseitigt werden, sagte sie sich, bevor die Leute ein Stück erwachsener wurden und sich an die Vorstellung einer glashausartigen Offenheit gewöhnten.
Sie sah, dass der Junge ein von der Raumsonde Cassini stammendes spektakuläres Bild der Saturnringe über dem Bett hängen hatte. Dafür hatte er im Moment aber keine Augen, weil er sich viel mehr für seine manuelle Betätigung interessierte. Heather erinnerte sich, wie ihre Mutter – mein Gott, das war fast fünfzig Jahre her – ihr von den Zukunftsaspekten erzählt hatte, mit denen sie aufgewachsen war. Damals hatte man noch voller Zuversicht in eine lichte Zukunft geschaut. Im Jahr 2025, so hatte ihre Mutter gesagt, würden atomgetriebene Raumschiffe zwischen den kolonisierten Planeten verkehren und sie mit Wasser und wichtigen Rohstoffen versorgen, die man auf den Asteroiden geschürft hatte. Vielleicht wäre bis dahin auch schon die erste interstellare Sonde gestartet. Und so weiter.
Möglicherweise wären Teenager in jener vergangenen Zeit bereit gewesen, sich durch die spektakuläre Landung der Forscher im Valles Marineris auf dem Mars, im großen Caloris-Becken auf Merkur oder auf den wandernden Eisfeldern des Mondes Europa von den Körperteilen ihrer Altersgenossen ablenken zu lassen – und wenn auch nur für kurze Zeit!
In Wirklichkeit sitzen wir noch immer hier auf der Erde fest, sagte sie sich, und die Zukunft scheint von einem schwarzen Felsbrocken ausgelöscht zu werden. Und wir haben nichts Besseres zu tun, als uns gegenseitig auszuspionieren.
Sie schloss die Wurmlochverbindung und fütterte den Rechner mit neuen Sicherheitsprotokollen. Das würde Mary zwar nicht für immer den Zugang verwehren, aber zumindest für sie erschweren.
Nachdem sie das getan hatte, machte sie sich erschöpft und niedergeschlagen wieder an die Arbeit.
5
DIE WAHRHEITS-MASCHINE
David und Heather saßen vor einer flackernden SoftScreen. Ihre Gesichter wurden vom grellen Sonnenschein eines lang vergangenen Tages beleuchtet.
… Er war ein Gefreiter, ein Soldat der Ersten Maryland Infanterie, und marschierte in einer Schützenlinie, die sich weit in die Ferne erstreckte. Ein stetiger und unheilverkündender Trommelwirbel war zu vernehmen.
Seinen Namen kannten sie noch nicht.
Der Dreck in seinem Gesicht war von Schweiß verschmiert, seine Uniform war schmutzig, vielfach geflickt und vom Regen durchnässt. Er wurde sichtlich nervös, als er sich der Frontlinie näherte.
Pulverdampf verhüllte die Szenerie. David und Heather hörten das Knattern von Gewehren und das Donnern von Kanonen.
Ihr Soldat kam an einem Feldlazarett vorbei, das aus Zelten auf einem schlammigen Geländeabschnitt bestand. Reihen von Leichen lagen unbedeckt neben dem ersten Zelt, außerdem ein Haufen amputierter Arme und Beine, an denen zum Teil noch Stofffetzen hingen. Es war ein grauenhafter Anblick. Zwei Männer warfen die Gliedmaßen in eine Grube mit glimmenden Kohlen. Aus den Zelten drangen schwach die Schreie der Verwundeten.
Der Soldat griff in die Uniformjacke und zog einen Stapel verschlissener Spielkarten, die von einer Schnur zusammengehalten wurden, und eine Fotografie hervor.
David, der die WurmCam bediente, schaltete auf Standbild und vergrößerte die kleine, abgegriffene Fotografie.
Es handelte sich um ein grobkörniges Schwarzweiß-Bild. »Es ist eine Frau«, sagte er langsam. »Und das sieht wie ein Esel aus. Und…
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