Das Licht ferner Tage
WurmCam benutzen. Ich weiß aber nicht, wofür sie sie außer den Beatles noch verwendet.«
Er zögerte. »Das Angebot, das ich dir machen möchte, ist vielleicht nicht ganz astrein. Aber – soll ich es für dich herausfinden?«
Sie runzelte die Stirn und schob sich das ergrauende Haar aus dem Gesicht. »Würdest du das tun?«
»Ich werde mit ihr reden.«
Die Welt wird kaum bemerken und sich nicht lang daran erinnern, was wir hier sagen, aber sie wird nie vergessen, was wir hier taten…
Lincolns Zuhörer – bei denen es sich fast nur um Männer handelte – mit den Zylindern und schwarzen Mänteln kamen David unglaublich fremd vor. Lincoln selbst überragte sie; er war so groß und dürr, dass er fast schon wie eine Karikatur wirkte. Seine Stimme war ein hohes, nasales Winseln. Dennoch…
»Seine Worte ziehen den Zuhörer auch heute noch in den Bann«, sagte er.
»Ja«, pflichtete Heather ihm bei. »Ich glaube, dass Lincoln den LiveBio- Prozess unbeschadet überstehen wird. Er war eine komplexe Persönlichkeit und ein Taktierer. Er sagte den Leuten das, was sie hören wollten – einmal präsentierte er sich als Gegner der Sklaverei, und dann wieder als ihr Fürsprecher. Bestimmt war er nicht der legendäre ›Abe‹. Der alte Abe, der ehrliche Abe, Vater Abe… Man muss ihm zugute halten, dass er in einer schweren Zeit lebte. Er stilisierte die Sache der Nordstaaten zum Kreuzzug, wodurch der Krieg eskalierte. Wenn Abe nicht gewesen wäre, wer weiß, ob man den Zusammenhalt der Nation hätte bewahren können?«
»Und er war nicht schwul.«
»Nö.«
»Was ist dann mit dem Tagebuch von Joshua Speed?«
»Eine Fälschung, die nach Lincolns Tod von Sympathisanten der Konföderierten inszeniert worden war, die hinter dem Attentat standen. Nachdem sie ihn umgebracht hatten, wollten sie ihm auch noch die Ehre rauben…«
Das Augenmerk der Öffentlichkeit hatte sich auf Abraham Lincolns Sexualität gerichtet, nachdem man ein Tagebuch entdeckt hatte, das angeblich von Joshua Speed verfasst worden war, einem Kaufmann aus Springfield, Illinois. Bei besagtem Speed hatte Lincoln als junger, verarmter Anwalt für ein paar Jahre logiert. Obwohl Speed und Lincoln später geheiratet und sogar im Ruf von Weiberhelden gestanden hatten, war das Gerücht aufgekommen, dass sie ein schwules Paar gewesen wären.
In den schwierigen Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts war Lincoln als Verkörperung der Toleranz und Integration breiter Bevölkerungsschichten wiederentdeckt worden -›Pink Lincoln‹, ein zwiespältiger Held in einem zwiespältigen Zeitalter. Ostern 2015, dem 150. Jahrestag von Lincolns Ermordung, hatte dieser Trend in einem Open-Air-Fest vor dem Lincoln Memorial in Washington, D.C. seinen Höhepunkt erreicht. Für eine Nacht war die große Steinfigur von pinkfarbenen Scheinwerfern angestrahlt worden.
»Ich habe beglaubigte WurmCam- Aufzeichnungen, die das belegen«, sagte Heather. »Jeder Sexualkontakt von Lincoln wurde im Schnelldurchlauf von Expertensystemen überprüft. Es gibt keinerlei Anzeichen für homo- oder bisexuelle Neigungen.«
»Aber Speed…«
»Er und Lincoln hatten sich damals in Illinois ein Bett geteilt. Aber das war in jener Zeit nicht ungewöhnlich -Lincoln konnte sich nämlich kein eigenes Bett leisten!«
David kratzte sich am Kopf. »Das wird für böses Blut sorgen.«
»Weißt du, wir werden uns daran gewöhnen müssen«, sagte sie. »Hat sich was mit Helden und Märchen. Erfolgreiche Führer sind pragmatisch. Sie müssen fast immer zwischen schlechten Optionen wählen, und der Klügste, wie Lincoln, wählt dann eben das kleinste Übel. Mehr kann man nicht von ihnen verlangen.«
David nickte. »Vielleicht. Aber ihr Amerikaner habt das Glück, dass eure Geschichte damit fast schon erschöpft ist. Wir Europäer haben noch ein paar tausend Jahre mehr zum Anschauen.«
Sie betrachteten schweigend die Bilder von Lincoln und seinem Publikum und lauschten den blechernen Stimmen und dem Applaus von Menschen, die lange schon tot waren.
6
RÜCKBLENDE
Nach einem halben Jahr war Kates Fall noch immer nicht verhandelt worden.
Bobby rief jeden Tag beim FBI an, um einen Termin mit dem Spezialagenten Michael Mavens zu vereinbaren. Mavens weigerte sich standhaft, ihn zu empfangen.
Und dann bestellte Mavens Bobby unverhofft ins FBI-Hauptquartier in Washington, D.C. ein. Bobby buchte den nächsten Flug.
Er fand Mavens in seinem Büro, einem anonymen stickigen Kasten ohne Fenster.
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