Das Licht ferner Tage
Wahrheits-Schwadronen formiert, die sich der WurmCam und des Internet bedienten. Ein paar dieser Schwadronen waren nicht mehr als eine Art von Nachbarschaftshilfe. Eine Organisation mit dem Namen Copwatch verbreitete jedoch Instruktionen für die Kontrolle der Polizeiarbeit, um sich als ›fairer Zeuge‹ für alle Aktivitäten eines Polizisten zu profilieren. Diese neue Rechenschaftspflicht wirkte sich angeblich schon auf die Qualität der Polizeiarbeit aus: gewalttätige und korrupte Beamte – von denen es zum Glück nur sehr wenige gab – wurden sofort entlarvt.
Verbraucherverbände hatten über Nacht Macht erlangt und wiesen täglich auf dubiose Geschäftemacher und Betrüger hin. In den meisten Staaten wurden detaillierte Aufstellungen von Wahlkampffinanzierungen veröffentlicht, in manchen Fällen zum ersten Mal. Auch die Grauzonen-Aktivitäten des Pentagon und die schwarzen Kassen gerieten ins Visier der Öffentlichkeit.
Heather gefiel das Bild verantwortungsbewusster Bürger, die mit WurmCam und gesundem Misstrauen bewehrt korrupte und kriminelle Staatsdiener entlarvten. Ihrem Verständnis zufolge beruhten die Grundrechte auf einer Kausalkette: Rechenschaftspflicht gewährleistete Offenheit, die Garant der Freiheit war. Und nun schien ein technisches Wunder – beziehungsweise eine Fehlkonstruktion, je nach Standpunkt – Privatleuten das mächtigste Enthüllungs-Werkzeug aller Zeiten an die Hand zu geben.
Die Gründerväter der Vereinigten Staaten hätten bestimmt ihre Freude daran gehabt – auch wenn es mit dem Verlust ihrer Privatsphäre konform gegangen wäre…
Sie hörte ein Geräusch in ihrem Arbeitszimmer. Ein leises Kichern.
Heather schlich barfuß zur halb offenen Tür. Mary und eine Freundin saßen an Heathers Schreibtisch. »Guck dir diesen Wichser an«, sagte Mary. »Seine Hand rutscht immer wieder ab.«
Heather erkannte die Freundin. Sasha, die in die nächsthöhere Klasse an Marys Schule ging, stand bei der örtlichen Elternschaft im Ruf, dass sie einen schlechten Einfluss auf ihre Schulkameradinnen hatte. Die Luft war vom Rauch eines Joint geschwängert – wahrscheinlich aus Heathers Bestand.
Die WurmCam zeigte das Bild eines Jungen. Heather identifizierte ihn als einen Schüler – Jack? Jacques? Er saß in seinem Zimmer, hatte die Hose heruntergelassen und masturbierte vor einer SoftScreen mit mehr Elan als Geschick.
»Ich gratuliere«, sagte sie leise. »Dann hast du die Nanny also ausgetrickst.«
Mary und Sasha fuhren herum. Sasha fuchtelte vergeblich mit der Hand, um die Marihuanawolke zu vertreiben.
Mary wandte sich wieder der SoftScreen zu. »Wieso nicht? Du hast dir auch Zugang verschafft.«
»Ich habe es aus gutem Grund getan.«
»Dann ist es also für dich in Ordnung, aber nicht für mich. Was für eine Heuchlerin du bist, Mama.«
Sasha stand auf. »Ich bin schon weg.«
»Ja, bist du.« Heather versuchte ihr noch eine zu wischen. »Mary, ich erkenne dich nicht wieder. Du spionierst deine Nachbarn wie ein schmieriger Voyeur aus.«
»Was soll ich denn sonst machen? Gib’s doch zu, Mama. Du bist selbst schon angeturnt…«
»Raus hier!«
Marys Lachen verwandelte sich in ein spöttisches Grinsen, und sie trollte sich.
Heather setzte sich erschüttert an die SoftScreen und betrachtete den Jungen. Der Bildschirm, auf den er starrte, zeigte auch eine WurmCam- Abbildung. Und zwar ein lächelndes nacktes Mädchen, das ebenfalls masturbierte und mit den Lippen Worte für den Jungen formte.
Heather fragte sich, wie viele Zuschauer das Paar wohl noch hatte. Es war zwar nicht möglich, eine WurmCam anzuzapfen, aber man vergaß allzu leicht, dass die WurmCam globalen Zugang für alle bedeutete – jeder war in der Lage, diese Kinder zu beobachten.
Sie hätte darauf gewettet, dass in den ersten Monaten die WurmCam in neunundneunzig Prozent aller Fälle für diese Art von Voyeurismus eingesetzt wurde. Vielleicht war es wie damals, als das Internet plötzlich den Zugang zu Pornos ermöglicht hatte, ohne dass man das Haus verlassen musste. Jeder Mensch sei im Grunde ein Voyeur, so lautete das Argument, und nun können wir es tun, ohne Angst zu haben, dabei erwischt zu werden.
Zumindest hatte man dieses Gefühl; die Wahrheit war aber, dass die Beobachter auch damit rechnen mussten, selbst von jedem beobachtet zu werden. Genauso wie jeder Mary und Sasha hätte beobachten können – zwei nette Schulmädchen, die sich auf geilten. Und vielleicht existierte auch eine Gemeinde,
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