Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)
Aufruhr, dass er keinen Sinn darin erkennen konnte.
Mit einer Mischung aus Grauen und Faszination trat er näher an das gefangene Wesen heran, das ihn nun bemerkt hatte und flehentlich anblickte. Es sah aus, als wollte es etwas sagen, doches war fast schon zu schwach dafür. Dann schob sich eine neue Ranke heran und drang in seinen Mund, sodass es nur noch einen erstickten Laut von sich gab.
Sarik streckte die Hand nach ihm aus.
Da glitten mehrere Ranken aus dem Unterholz und legten sich um seine Knöchel. Zwei weitere reckten sich wie Fühler über ihm empor, und er konnte sehen, dass sie in zwei blutigen Augäpfeln mündeten, die ihn mit kühler Verwunderung anglotzten.
Die Herrin der Dämmerung trat aus dem Dickicht hervor.
Verglichen mit den makellosen Leichen ihrer Schwestern wirkte sie verbraucht und gebrechlich. Ihre zarten Flügel waren knittrig wie altes Pergament, ihr Gewand aus Spinnweben zerrissen.
»Was hat er mir gebracht?«, flüsterte sie in verwirrtem Singsang. »Was? Was hat er mir gebracht?«
Und überall um Sarik öffneten orchideenartige Gewächse ihre klebrigen Münder.
Das Irrlicht schoss heran, direkt vor ihr Gesicht, als wollte es sie blenden. Dann drehte es sich mit bedrohlicher Langsamkeit vor ihr und pulsierte, schlug Wellen wie Wasser in einer Schale, wenn ein Tropfen hineinfällt. Verzaubert wie ein kleines Kind erstarrte Ycille und bestaunte das hypnotische Licht vor ihren Augen, veilchenblau und fuchsienrot.
»Ycille«, sagte Sarik. »Ich bin es, Sarik. Erkennst du mich?«
Die Lippen bebten, und Tränen traten in ihre Augen.
»Ich erkenne dich«, flüsterte sie. »Ich sehe dich, wie ich dich nie gesehen habe …«
Still rief Sarik nach dem Irrlicht, doch es war zu beschäftigt, Ycille in seinem Bann zu halten.
»Was ist dir geschehen?«, fragte Sarik.
Ycilles Blick wanderte über das Schlachtfeld ihrer traumgeborenen Zwillinge und schluchzte. Im selben Moment begannen die Dornenranken zu knospen und Blüten zu treiben, und Sekunden später hatten sie die grausige Szenerie unter einer blühendenWoge begraben. Von dort breiteten sie sich aus: Weidenkätzchen wuchsen auf den Zweigen, frische Triebe reckten ihre Köpfe aus der Erde, Lilien öffneten sich zum silbergrauen Himmel.
»Der Dämon«, flüsterte Ycille, und das Farbenspiel des Irrlichts warf glitzernde Sterne auf ihre Stirn. »Der Geist, mit dessen Sinnen ich sehe …«
Und da verstand Sarik, oder glaubte es doch: Ycille sah und fühlte dasselbe wie die unsichtbare Macht, die einst Neseja gewesen war und tausendfach in den Wechselbälgern überall auf der Welt überdauert hatte: mannigfaltig gebrochen wie die Facetten eines Bildes in einem geborstenen Spiegel; unstet und wandelbar wie Quecksilber, das man in verschiedene Gefäße gießt, ohne Form und eigene Gestalt – ein qualvoll isolierter Lebensfunke, immer auf der Suche nach seinesgleichen, einem größeren Gefäß, bis aus der silbernen Vielfalt das ursprüngliche Bild wieder erstehen kann.
Der Wahnsinn, überall und nirgends zu sein, alles und doch nichts, und in jedem neuen Splitter sich selbst zu begegnen, hatte ihre Insel zum Abbild ihres Albtraums gemacht.
Rasch , blitzte die Stimme des Irrlichts durch Sariks Geist. Bald habe ich sie wieder verloren.
Sarik griff nach Ycilles Arm. Ihre Haut fühlte sich glatt und kalt an, wie Steine in einem Flussbett. Normalerweise hätte er es nicht gewagt, eine Mächtige auf diese Weise zu berühren, doch etwas an ihrer Hilflosigkeit rührte ihn an.
»Ich bitte dich«, sagte er. »Du musst etwas für mich tun.« Sie nickte stumm. Er musste sie nicht daran erinnern, dass sie in diesem Augenblick in seiner Schuld stand.
»Korianthe hat einen Bann auf mich gelegt, der mich die letzten Jahrhunderte schlafen ließ. Seitdem liegt ein Schleier auf meinem Geist … und ich habe meinen Weg verloren.«
Sie streckte die Hand nach ihm aus und berührte ihn an der Wange. In ihren Augen schimmerten Blau und Türkis wie in einem hellen Teich. »Dein Weg hat dich zu mir geführt«, stellte siefest. »Und ich danke für die Liebe, die du mir bringst. Ich will versuchen, dich zu heilen …«
Er neigte den Kopf. »Ich erinnere mich nur an Geschichten«, murmelte er. »Doch welche Rolle spiele ich darin? Wenn ich wirklich tat, was ich ahne, war meine Strafe gerecht – oder nicht?« Ihre Hand fuhr ihm durchs Haar und hielt ihn fest. Das Irrlicht stieg etwas höher und schien auf sie beide herab. »Ich erinnere mich«, fuhr er
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