Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)
noch leiser fort, »dass mein Freund, den ich verriet, als Gott wiederkam … und der Orden sich gegen ihn stellte. Cenaldi sagte mir, dass ihr dabei wart …«
Sie senkte ihre Stirn gegen seine und schloss die Augen, und er tat es ihr gleich. Und wie sie da standen inmitten der neu erblühten Insel der Dämmerung, spürte er, wie sie in ihn eindrang: Er fühlte die Insel und das Leben auf ihr, selbst den gefangenen Wechselbalg, der mit Ycilles Geist verbunden war, und das Irrlicht, das über allem schwebte; und alles war ihm seltsam vertraut in diesem Moment. Dann spürte er, wie eine unsichtbare Hand durch das Dickicht in seinem Verstand griff und die lange vergessene Saat darunter zu keimen begann – und er konnte sich wieder an alles erinnern.
Niemand hat je die alleräußerste Leere bereist und ist wieder zurückgekehrt. Es heißt, dass sie diese und alle anderen Welten umgebe. An manchen Stellen, wo die Welten sich berühren, ist sie nur eine hauchdünne Membran, wie die Farben auf schillerndem Seifenschaum, andernorts ist sie tief und unergründlich, und wenn sie ein Zentrum oder eine Grenze hat, so sind diese nicht bekannt. Auch weiß man nicht, ob Zeit in der Leere vergeht, und ob sie den bekannten Gesetzen gehorcht. Menschen wie Mächtigen sei nicht möglich, zu verstehen, was in der Leere geschieht, so sagt man. Nur die Wesenheiten gehen dort um.
Zearis’ Geist oder Seele kehrt ein Jahr nach seinem Tod aus der Leere zurück.
Er nennt sich nicht mehr Zearis, sondern Neseja, was »der zweimal Geborene«in der Hohen Sprache heißt. Und er ist weder Mensch noch Eolyn und hat auch keinen Körper mehr wie die anderen Mächtigen. Er sagt, er sei nun eine der Wesenheiten und erwarte den gebührenden Respekt vom Orden. Gleichzeitig bittet er um den Beistand der Mächtigen. Im Gegenzug wolle er sie viele Geheimnisse lehren, die er in seiner Zeit in der alleräußersten Leere gelernt hat.
Bald wird auch klar, wieso er diesen Beistand nötig hat. Es wird Korianthe offenbar, dass Nesejas Macht nicht von ungefähr rührt: Es scheint, dass er in der Leere auf die Wesenheit traf, von der Borchiak und Sarik erzählten, und in seinem verzweifelten Kampf gegen das Abgleiten und Vergehen wagte, was kein Mächtiger vor ihm je gewagt hat: Er packte nach ihr und griff sie an.
Sie rangen einen Tag oder ein Jahr oder tausend in der Dunkelheit. Dann gelang es ihm, sie zu töten und ihre Kraft in sich aufzunehmen.
Die Mächtigen sprechen von Glück, von Lüge und Frevel, doch insgeheim bewundern ihn nicht wenige für das, was er gewagt hat. Einer der ihren, eine Wesenheit! Es bieten sich schier unglaubliche Perspektiven für sie, ja die gesamte Welt. Endlich wären sie kein Spielball höherer Mächte mehr. Was immer die Wesenheiten in Navylyn tun – Neseja könnte es ungeschehen machen. Vielleicht kann er den anderen Wesenheiten gar den Zutritt zu den Hallen des Schicksals verwehren, und die Mächtigen lehren, ihre eigenen Züge zu tun.
Sie wären ihr eigener Herr. Niemand außer ihnen selbst würde fortan über ihr Schicksal bestimmen. Vielleicht, sagen die Wagemutigsten, können eines Tages alle Menschen, Fealva und Eolyn ewig leben und unter der Weisung der Mächtigen ihrer Göttlichkeit entgegengehen.
Dann jedoch öffnen sich die Pforten in die höheren Sphären, die Wesenheiten steigen herab und fordern die Herausgabe des Usurpators.
Die meisten Mächtigen sind im ersten Moment einfach zu benommen. Viele haben nie zuvor eine Wesenheit von nahem gesehen, und manche wünschen bei ihrem Anblick erst recht, in ihren Rang aufzusteigen und die alten Götter vom Thron zu stoßen.
Sarik lebt zu dieser Zeit mit Zeona fern des Ordens. Sie sind mehr als nur Freunde, doch er kennt kein Wort für das, was sie ist: Ihr verdankt ersein Leben. Nun fürchtet er, dass seine Lügen auffliegen werden und Zeona ihn hasst, wenn sie erfährt, was er ersehnt und ihr Bruder vollbracht hat. Zeona ihrerseits ist zerrissen zwischen Freude, Fassungslosigkeit und Angst – nicht um ihren Bruder, sondern vor dem, was er noch anrichten wird.
Korianthe bittet die Wesenheiten um Vergebung, doch ihre Bitte bleibt unerhört.
Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, vernichten die Wesenheiten Iljudis. Nerian und viele der Mächtigen finden den Tod. Der unsichtbare Krieg schlägt Wellen bis in die Welt der Sterblichen, deren Städte Beben und Fluten zum Opfer fallen. Die alte Ordnung versinkt im Chaos, dem sich nur der Orden von Geador noch
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