Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)
du mich vielleicht –«
Janner hob die Hand.
»Moment mal. Er war … du meinst, wie in den Geschichten? Die man sich in Pherenaïs von Eolyn erzählt?«
Cassiopeia nickte. »Als ich zu ihm kam, hatte er gerade Fleik getötet. Seine Lippen waren voller Blut. Wechselbälger brauchen fremdes Leben. Die Gier muss ihn übermannt haben.«
»Ein sehr schlechter Zeitpunkt«, merkte April an.
Cassiopeia hob eine Braue. »Ich weiß nicht, ob sie das kontrollieren können. Weißt du es? Vielleicht hat er lange nichts mehr gehabt. Habt ihr in letzter Zeit nichts Ungewöhnliches bemerkt? Ist vielleicht jemand verschwunden, oder gab es tote Tiere in der Nähe des Lagers?«
Janner dachte an die Spuren im Wald und tauschte einen kurzen Blick mit Toska.
»Was hast du mit ihm gemacht?«, fragte er.
»Ich habe ihn getötet«, sagte Cassiopeia.
»Wie?«
»Ich habe ihm den Kopf abgeschlagen.«
Er grunzte.
»Das gefällt mir nicht«, knurrte Wybart. »Ausgerechnet Odwyn? Er hatte nicht mal zusammengewachsene Brauen. Da ist doch was faul! Ich kannte ihn. Er war ein guter Mann. Irgendwer erzählt hier nicht die Wahrheit.«
April und Janner schauten sich an. Sie wussten beide, Misstrauen war der Anfang vom Ende. Vielleicht das Ende von allem.
»Es muss nichts zu bedeuten haben«, sagte April. »Wir haben alle eine Menge hinter uns. Ich habe auch …« Sie rang nach Worten.
»Was?«, fragte Edric.
»Ich dachte, ich hätte während der Schlacht etwas gesehen. Zuerst hatte ich Angst – ich dachte, es wäre ein Geist … aber ich habe es mir wohl nur eingebildet.« Sie hob die Stimme. »Wir haben alle unsere Geister. Und wenn schon.« Trotzig ließ sie den Blick umherschweifen, sah erst Cassiopeia, dann die anderen an. »Es ist nichts«, sagte sie. »Es ist gar nichts. Wir gehen in den Norden und fangen noch einmal von vorn an.«
In dieser Nacht fand April lange keine Ruhe. Das Erlebte ließ sie nicht los, und sie wollte Janner noch so vieles erzählen: darüber, was sie im Kampfgetümmel gesehen hatte. Über die Sorgen, die sie sich gemacht hatte, bis er und die Verwundeten endlich eintrafen. Wie leid ihr alles tat. Doch sie fand nicht die richtigen Worte.
Janners Brust hob und senkte sich in unruhigem Schlaf, während sie noch darüber grübelte, was wohl nun aus ihnen und ihrer Geschichte würde, und wie es eigentlich sein konnte, dass sie gar nicht mehr wusste, ob sie nun Banneisen und Schneeklinge waren, die Freunde des einfachen Volkes, oder bloß zwei Mörder unter vielen.
Sie sah ihren Vater vor sich, wie er mit verdutztem Gesicht ins Leere fiel und unten aufschlug, an seinen zuckenden Fuß dort am Ende der Treppe. Sie dachte an den kleinen Toni und sein schwarzes Blut, das sich mit dem Mehl des Mühlsteins zu einer unappetitlichen Suppe mischte. Den leblosen Fremden von der Telegraphenstation, gefesselt an einen Tisch in dem Rasthaus bei Conpeccio; die Wachen im Gefängnis von Trestin.
»Es tut mir leid«, sagte sie irgendwann, zu ihnen, zu Janner und ihrem ungeborenen Kind, und meinte damit einfach alles, angefangen bei ihrem Wunsch, nach der anderen Sonne zu suchen, aufgehört bei jenem Einfall, der ihr jetzt so kindisch erschien, ein magisches Schwert für etwas wie Ruhm oder Reichtum verwenden zu wollen. Und was hatte es aus ihr gemacht? Sie wünschte, Sarik wäre da und könnte ihr das Schwert wieder abnehmen, oder ihr wenigstens sagen, was sie tun konnte, um das wenige, das ihr geblieben war, nicht auch noch zu verlieren.
Doch wenn sie jetzt aufgaben, hätten dann nicht die anderen gewonnen? Die Präfekten, die Dons, ihre Soldaten und Söhne – all die falschen Väter und Brüder dieser Welt? War dieser Kampf nicht ebenso wichtig wie der, den die Prinzessin aus Sariks Geschichte einst schlug? Sie wusste es nicht mehr. Das wahre Leben war so viel komplizierter als eine Geschichte – sie glaubte nicht, dass sich Prinzessinnen eine Vorstellung davon machen konnten.
In den frühen Morgenstunden schlief sie endlich ein. Ihr Schlaf war kurz und traumlos, und als sie erwachte, war Janner verschwunden, und an seiner Stelle lag ein Brief an ihrer Seite.
Daneben lagen seine Flöte und sein Fernrohr.
»Nein«, flüsterte sie und begann zu weinen. »Nein!«, rief sie aus und schrie, und drückte das Stück Papier, das sie nicht lesen konnte, an ihre Brust.
Auch Cassiopeia fand keinen Schlaf, und so schlich sie um die Zelte und wanderte in den Wald hinein. Sie hatte ihre erste Schlacht geschlagen, und es hatte
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