Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)
sie in einer Weise aufgewühlt, von der sie nicht wusste, ob sie gut oder schlecht war. Sie fand keinen Gefallen am Töten. Sie konnte es sich aber auch nicht leisten, ein schlechtes Gewissen zu haben.
Nach einer Weile hörte sie vertrautes Pferdeschnauben, und sie lenkte ihre Schritte in diese Richtung. Dort, auf einer kleinen Wiese, fand sie Lesardre.
Er striegelte seinen Hengst und fuhr ihm zärtlich über den Hals, zwei weiße Geister unter dem Sternenzelt. Sie hatte ihn noch nie einem lebenden Wesen so viel Zuwendung schenken sehen und ließ das Bild kurz auf sich wirken. Da fuhr er plötzlich herum und sah sie an.
Während der Wochen, die sie gemeinsam durch die Provinzen gereist und den Geschichten zweier Vogelfreier namens Banneisen und Schneeklinge gefolgt waren, hatte sie gelernt, sich mittels Gesten mit ihm zu verständigen. Auch wenn sie nie so geschickt werden würde wie er, war es einfacher als das geschriebene Wort und weniger verstörend als das gemeinsame Träumen mittels seiner Kristallkugel.
»War die Jagd erfolgreich?«, fragte sie ihn. Er schüttelte den Kopf.
Da er nicht schlief und sie vereinbart hatten, dass er Abstand zur Gruppe hielt, nutzte er seine Zeit, um nach anderen Wechselbälgern zu jagen – eine Aufgabe, der er mit rücksichtsloser Gründlichkeit nachging. Tatsächlich war Odwyn schon das vierte Opfer, das er seit ihrem Treffen im Sommerland zur Strecke gebracht hatte. Sie glaubte, dass er auf diese Art Kraft für den bevorstehenden Kampf gegen Dougal sammelte, auch wenn es ihm nach wie vor widerstrebte, seine Gegner – sofern dies das richtige Wort dafür war – zu trinken; denn er wollte nicht, dass sie Macht über ihn erlangten.
»Ich habe ihnen erzählt, was mit Odwyn war«, sagte sie. Er zeigte keine Reaktion.
»Sie glauben, ich habe ihn getötet.« Da verzog er amüsiert den Mundwinkel.
»Du hättest ihren Plan fast zum Scheitern gebracht«, rügte sie ihn. »Und du hättest nicht in den Kampf eingreifen sollen. Wie viele Leute hast du allein umgebracht? Zehn? Zwanzig?«
Statt einer Antwort beendete er die Pflege seines Pferdes und verstaute Striegel und Bürste wieder in der Satteltasche. »Es interessiert dich nicht einmal«, stellte sie fest.Er nickte herausfordernd in ihre Richtung. Und du?
Dann machte er eine Geste, die sie als Plan oder Absicht verstand.
»Ich weiß.« Sie senkte den Blick. »Wir sind spät dran. Aber ich bin noch nicht so weit.«
Da deutete er einen Ausfall an, und sie reagierte, ehe sie darüber nachdachte. Aber er hatte seine Waffe nicht gezogen, sondern lachte nur sein stilles Lachen. Dann erstarrte er, als hätte er etwas in den Wäldern gehört, und sie spürte fast körperlich, wie er sie vergaß und von einem Moment auf den nächsten seine Aufmerksamkeit auf einen weit entfernten Ort richtete.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie sich ihm die Welt darstellte. Manchmal glaubte sie, er wusste Dinge, die nur Dougal wissen konnte, oder jemand anderes: die Macht, die hinter ihnen beiden und all ihren Brüdern und Schwestern stand.
»Ich könnte mir das Schwert mit Gewalt nehmen«, sagte sie, »aber ich will nicht. Ich glaube, ich kann Ianus vielleicht überzeugen. Einen Handel mit ihm schließen.«
Er wandte kurz den Kopf, als merkte er eben erst, dass sie immer noch da war.
»Ich weiß, du kannst das nicht verstehen. Er ist mir aber wichtig. Lass mich noch einmal mit ihm reden.«
Er machte ein anderes Zeichen, das sie sehr gut kannte. Er hatte es ihr mit Hilfe des Tarots beigebracht: Es war der Turm. Der Turm, hatte sie begriffen, war der Ort, an dem der Erste, von dem alle Wechselbälger abstammten, vor vielen hundert, wenn nicht tausend Jahren sein Leben ließ. Und aller Voraussicht nach war es auch der Ort, an dem die Vereinigung vollzogen werden sollte; das letzte Gericht.
Sie wusste mittlerweile, dass dieser Ort in Teveral zu finden war und unter dem Namen Geador bekannt war. Was sie nicht wusste, war, weshalb er eine solche Anziehungskraft auf die Wechselbälger ausübte. Anscheinend war er noch heute in der Hand jenes Ordens, der den Ersten damals hinterging und bezwang– der Hohepriesterin und ihres Hofstaats. Doch Dougal – oder der Geist, der ihn antrieb – brauchte ihn für die Vollendung seines Plans.
»Ich habe schon verstanden«, sagte sie. »Ich brauche das Schwert, bevor es zu spät ist.«
Er zeigte zu den Sternen und ließ seinen Finger kreisen. Nicht mehr lange.
»Ich weiß«, sagte sie noch
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