Das Licht in Buddhas Spiegel - Neal Carey 2
Ende der Welt. Er stieg weiter auf. Yi, ar, yi, ar, yi…
Konzentrier dich aufs Zählen, dachte er. Denk nicht an den Schmerz, denk nicht an die Angst, denk nicht an Pendleton, nicht an sie, und um Gottes willen, denk nicht daran, daß sie dich verfolgen. Bei diesem Tempo müssen sie näherkommen. Schnell näherkommen. Aber denk nicht daran. Denk an yi, ar, yi, ar… yi… ar… yi… ar… Zwei Stunden bergauf.
Li wartete an einer kleinen Terrasse auf ihn.
Sie zeigte nach vorn. Er konnte eine Riesennase sehen, die sich weit über die anderen Hügel erhob.
»Der Gipfel«, sagte sie.
»Wie weit?«
»Vier Stunden. Vielleicht für dich sechs.«
Vielleicht für mich der Tod.
»Ist es alles so steil?«
»Das meiste. Eine Stelle ist einfach, fast plan. Aber, leider, sie ist auch sehr beängstigend.«
Na prima.
»Warum beängstigend?«
»Der Pfad ist sehr schmal.«
»Lang?«
Sie nickte. Dann lächelte sie und fügte hinzu: »Aber danach ist es nur noch ein kurzer Aufstieg zum Gipfel.«
Neal sah zum Gipfel. Fuck you, Augenbraue des Seidenspinners! Ich komme, und du kannst nichts dagegen tun! Du hast es versucht, und ich komme immer noch!
»Laß uns gehen«, sagte er.
Neal brach am Ende der Drei-Blick-Treppe zusammen. Er rollte sich auf den Rücken und keuchte vor Schmerz. Er versuchte nicht, die Tränen zurückzuhalten. Seine Brust hob und senkte sich und seine Rippen schmerzten, als würden sie jetzt alle brechen. Er konnte Li kaum zu ihm zurückkommen hören. Er konnte überhaupt kaum hören. Das Rauschen des Wassers hallte durch den Canyon und seinen Kopf. Der Pfad war in Wasserdunst gehüllt.
»Donnerterrasse«, rief Li. »Der Drachen und der Donner leben hier!«
Neal nickte.
»Schmerzt es?«
Neal rollte mit den Augen und nickte.
»Etwas weiter gibt es Höhlen! Da machen wir Pause.«
Li half Neal auf die Beine. Er taumelte hinter ihr her, aus dem Wasserdunst auf eine weitere Plattform, hinter der eine Höhle in der Klippe war. Sie half ihm, sich zu setzen. Sie konnten hinuntersehen auf die Dächer etlicher Klöster. Auf den Weg, die schrecklichen Treppen. Sie konnten drei Figuren gehen sehen, wo Neal am Tag zuvor gestürzt war.
»Sie sind dir gefolgt«, sagte Li. Sie klang verzweifelt.
Einen Augenblick schwiegen sie.
»Zwei Chinesen und ein Amerikaner.«
»Woher weißt du das?«
»Ich sehe es am Gang.«
Sie stand auf. »Die Pause ist zu Ende.«
Er erhob sich mühsam. »Wir können es immer noch schaffen, nicht? Zu Pendleton kommen und uns verstecken? Entkommen?«
Sie stand einen Augenblick da und dachte nach. »Vielleicht. Vielleicht. Es bleiben noch die vierundachtzig Biegungen, der Elefantensattel und Buddhas Leiter. Vielleicht drei Stunden.«
»Wir können es schaffen.«
»Wir können zumindest Vater warnen.«
Das klang nicht gut, dachte Neal. Der Sattel klang einfach, aber die vierundachtzig Biegungen? Und eine Leiter? Ihre Verfolger lagen vielleicht drei Stunden zurück. Vielleicht. Aber sie kamen näher.
»Du gehst besser vor«, sagte er.
»Sie werden dich töten.«
»Nee, sie werden bloß ein ernstes Wörtchen mit mir reden. Das halte ich aus.«
»Sie werden dich töten. Komm.«
Sie gingen los, er trottete hinter ihr her. Nach fünf Minuten erreichten sie die erste Biegung. Er sah auf und sah etwas, das wie eine unendliche Feuertreppe im Zickzack in den Himmel führte. Die ersten paar Biegungen waren einigermaßen einfach, aber dann wurden sie immer steiler. Nach zehn Biegungen wurde der Weg beinahe so steil wie die Drei-Blick-Treppe, und Neals Knie berührten bei jeder Stufe seine Brust.
Der Anblick ihrer Jäger hatte Adrenalin in Bewegung gebracht, das für vierzig Biegungen reichte. Dananch mußte Neal nach einer neuen Motivation suchen. Angst brachte nichts, Wut auch nicht. Pflichtbewußtsein brachte fünf Biegungen, Loyalität noch mal sieben, Liebe weitere zwölf. Verachtung brachte nur eine, Stolz eine halbe, eine Wiederholung der Loyalität ließ ihn die nächsten schwierigen zwei schaffen, Schuld die nächsten drei, dann stürzte er.
»Noch vierzehn, dann ist es flach«, rief Li Lan von der nächsten Biegung aus.
Neal lag in Embryonalhaltung auf den Stufen. Vierzehn? Ich habe keine vierzehn mehr. Ich habe nichts mehr.
»Geh vor!«
Aus den Augenwinkeln sah er sie einen Moment stehen bleiben, dann ging sie langsam weiter. Sie ist auch erledigt, dachte er. Gott, ich habe alles verloren.
Und wenn du alles verloren hast, hast du nichts mehr zu verlieren.
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