Das Licht in Buddhas Spiegel - Neal Carey 2
Ausstellung ihrer Gemälde in der Galerie »Illyria«. »Shan Shui von Li Lan« stand darauf, und daneben waren einige Schwarz/weiß-Reproduktionen der Bilder: große, weite Landschaften mit Bergen, die in Seen oder Flüssen gespiegelt wurden. Die Fotos von Li Lan waren so ausgewählt, daß sie auf dem einen ihre Werke zu begutachten schien und auf dem anderen den Betrachter ansah. Dieses Foto faszinierte Neal. Ihr Gesicht wirkte offen und schutzlos. Die Linien von Leid und Freude waren da, er konnte sie lesen. Freundlichkeit ließ ihre Augen leuchten.
Wir lernen es nie, dachte er. Wir nehmen an, daß sie eine Hure ist, aufgrund dessen, was wir sind.
Er hatte das Poster nur entdeckt, weil das Meditieren ihm schnell langweilig geworden und er in die Buchhandlung spaziert war, um sich ein wenig umzuschauen. Die Buchhandlung war außerdem ein Café und ein Cabaret, und es gab eine Pinnwand, auf der wichtige Events im Ort beworben wurden, unter anderem Li Lans Ausstellung.
Die Illyria-Galerie lag auf der anderen Seite der Straße, drei Türen neben dem Café. Von der Sitzbank aus hatte er sie angestarrt.
Er vertrödelte keine weitere Zeit damit, nach Büchern zu stöbern oder Muckefuck zu trinken. Statt dessen kaufte er eine Ausgabe von Shakespeares Was ihr wollt, fand eine Telefonzelle samt Telefonbuch und rief das Asian Art-Museum in San Francisco an. Er wurde ein paarmal durchgestellt, bevor er an jemanden geriet, der bereit war, einem Studenten am Telefon ein paar Fragen zu beantworten.
Die ausgeblichene Holztür von Illyria war zwischen zwei Glasfenstern eingelassen, hinter denen große Acryl-Landschaften von Li Lan zu sehen waren. Das Innere war ein großer, heller Raum, in dem strategisch geschickt Leinwand-Trennwände aufgestellt worden waren, auf denen Gemälde und Drucke präsentiert wurden. Auf ein paar Holzständern standen Skulpturen, und leuchtend bedruckte Stoffbahnen hingen wie schlaffe Segel von der Decke. Eine große Ausgabe des Posters, das er gerade gesehen hatte, war auf einer Staffelei direkt hinter der Tür befestigt worden.
Eine Frau saß hinter einem Tisch und schrieb in ein Buch.
»Und was soll ich in Illyria tun?« fragte Neal sie.
»Etwas kaufen, hoffe ich«, entgegnete sie. Sie war klein und vielleicht Anfang Vierzig, ihr dichtes schwarzes Haar war straff aus dem Gesicht gekämmt. Sie hatte hellblaue Augen, eine schmale Nase und dünne Lippen. Sie trug ein schwarzes Jersey-Kleid und schwarze Ballettschuhe.
Neal war sich nicht sicher, ob seine Allgemeinbildung sie beeindruckt hatte, aber auf alle Fälle hatte sie die I LEFT M Y ♥ IN SAN F RANCISCO -Tasche entdeckt.
»Darf ich Ihnen etwas zeigen?« fragte sie.
Die Tür, zum Beispiel?
»Sind Sie die Besitzerin?«
»Das bin ich. Olivia Kendall.«
»Olivia… daher der Name der Galerie.«
»Diese Verbindung erkennen nur wenige.«
»Was ihr wollt ist mein Lieblings-Shakespeare. Lassen Sie mich überlegen… ›O da zuerst mein Aug Olivia sah, schien mir die Luft durch ihren Hauch gereinigt…‹ Wie war das?«
Sie kam hinter ihrem Tisch hervor.
»Sehr gut. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte mir die Li Lans ansehen.«
»Sind Sie Händler?«
»Nein, ich interessiere mich nur für chinesische Malerei.«
Seit ungefähr einer Stunde.
»Wie schön. Wir haben schon einige verkauft. Morgen ist der letzte Tag der Ausstellung.«
»Ich weiß nicht, ob ich etwas kaufen möchte.«
»Sie werden. Zwei Verkäufe gehen an Museen.«
»Darf ich sie sehen?«
»Bitte.«
Neal verstand nicht viel von Kunst. Er war zweimal im Met gewesen, einmal als Klassenausflug, das andere Mal bei einem Date mit Diane. Er hatte nichts gegen Kunst, sie war ihm bloß egal.
Bis er Li Lans Bilder sah.
Es waren Spiegel-Bilder. Steile Klippen reflektiert im Wasser. Strudel zeigten die zerstörten Abbilder der hohen Berge. Die Farben leuchteten dramatisch – beinahe gewalttätig, dachte Neal, als wären die Farben Gefühle, die sich freikämpften…
»Shan Shui«, sagte er. »›Berge und Wasser‹, eine Referenz an die Landschaftsmalerei der Sung-Dynastie?«
Wie die nette Frau im Museum behauptet hat?
Olivia Kendalls Gesicht leuchtete begeistert. »Wer sind Sie?« fragte sie.
Ich weiß nicht, Mrs. Kendall.
»Und ganz deutlich ist ein südlicher Sung-Mi-Fei-Einfluß«, fuhr Neal fort. Er kam sich vor wie in einem seiner Seminare, wenn er über ein Buch diskutierte, das er nicht gelesen hatte. »Sehr impressionistisch, aber immer noch im
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