Das Licht von Shambala
Tonfall, der nicht ihm zu gehören schien, »du musst nicht länger verbergen, was der wahre Grund unserer Reise ist. Wir sind hier unter Freunden. Es gibt keine Geheimnisse mehr, verstehst du?«
Sarah schaute den Jungen an - und verstand tatsächlich.
Indem sie das Bewusstsein des alten Ammon auf Ufuk übertrugen, hatten die Mönche von Tirthapuri von all den Dingen Kenntnis erlangt, die im Bewusstsein des Weisen gespeichert gewesen waren. Sie wussten von der Suche nach den Arimaspen, von den dramatischen Erlebnissen auf der Krim und im Fürstentum Rampur und von der gefahrvollen Irrfahrt durch die Lüfte.
Und natürlich, fügte Sarah in Gedanken hinzu, wussten sie auch von Kamal und der Bedrohung durch das Eine Auge.
»Wie gesagt«, wiederholte der Abt, als sich Sarahs erstaunter Blick auf ihn richtete, »da sind viele Dinge, über die wir sprechen müssen.«
3.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
Ich hatte nicht damit gerechnet, die Augen jemals wieder aufzuschlagen, aber eine unfassbare Laune des Schicksals - oder sollte auch ich allmählich von Bestimmung sprechen? - hat uns am Leben erhalten.
Das Kloster, dessen Mönche uns nach dem Absturz der ›Kamal‹ aufgelesen und gesund gepflegt haben, liegt rund einhundert Meilen östlich des Shipki-La, unweit der alten Pilgerstraße, die von Leh nach Lhasa führt, und fast am Ende des von dramatischen Felsformationen gesäumten Tales, das der Fluss Sutlej durch die karge, von Bergen umgebene Wüstenei geschnitten hat. Einhundert Meilen, fast eine ganze Tagesreise - so weit haben uns die Überreste unseres treuen Schiffs getragen, gepeitscht vom Regen und vom unnachgiebigen Wind. Dennoch kommt es mir vor, als hätte uns der Sturm noch viel weiter hin fortgeweht, in eine andere Welt ...
Tirthapuri ist keine sehr große Anlage und umfasst lediglich einen kleinen Tempel sowie ein längliches Gebäude, in dem sich die Versammlungshalle der Mönche, eine Bibliothek und die Küche befinden; ferner einen ummauerten Hof, der die Unterkünfte und Vorratslager beherbergt und in dessen Mitte ein hoher Mast errichtet wurde, an dem Dutzende bunter Fähnchen im Wind flattern, um, wie Abt Ston-Pa uns erklärt, den Berggöttern zu huldigen. Trotz seiner geringen Größe scheint dem Kloster einige Bedeutung zuzukommen, denn unweit davon befinden sich heiße Quellen, deren Wasser Heilkräfte besitzen soll, das auch bei meinem Gefährten und mir Anwendung fand. Mehr noch als die äußeren Merkmale beeindrucken mich jedoch die Ruhe und Kraft, die diesen wundersamen Ort zu durchdringen scheinen.
Noch immer kann ich kaum glauben, was Ufuk widerfahren ist, und fürchte, alles könnte sich als Betrug herausstellen; aber wann immer ich mich mit Ufuk unterhalte, habe ich das Gefühl, dass das Wissen und die Weisheit meines alten Lehrers aus ihm sprechen, sodass mir nichts anderes bleibt, als einfach hinzunehmen, was anderswo auf der Welt eine Sensation ersten Ranges wäre.
Friedrich Hingis ergeht es ebenso wie mir. Auch er hatte mit dem Leben abgeschlossen, gleichwohl sucht er als Rationalist nach wissenschaftlichen Erklärungen für das, was Ufuk widerfahren ist. Dabei nimmt er Begriffe wie »Seelenwanderung« und »Reinkarnation« in den Mund und postuliert abenteuerliche Thesen, die letztlich jedoch nur Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit sind und zeigen, dass auch seine Wissenschaft hier an ihre Grenzen gelangt ist.
Abramowitsch verhält sich, wie man es von ihm erwarten durfte; statt den Mönchen dankbar für seine Rettung zu sein, begegnet er ihnen mit Misstrauen und versucht, Abt Ston-Pa und seinen Mitbrüdern Informationen über ihr Land und seine Politik zu entlocken. Doch obschon die Mönche der Lehre Buddhas folgen, scheinen sie Geheimnisse zu hüten, die noch um vieles älter sind, und so sind sie geübt darin, ihr Wissen zu bewahren und neugierigen Fragen mit Ausflüchten zu begegnen. Mir gegenüber hingegen scheinen sie bereit, ihr Schweigen zu brechen, was zum einen mit dem Auftauchen Hieronymos' zusammenhängen mag, zum anderen aber auch damit, dass ich mich diesen Menschen und ihrem Land auf eine rätselhafte Art und Weise verbunden fühle.
Fast kommt es mir vor, als wäre ich schon einmal hier gewesen, und noch niemals zuvor in meinem Leben hatte ich das Gefühl, den Antworten auf meine Fragen näher zu sein ...
K LOSTER T IRTHAPURI
W ESTTIBET
14. JUNI 1885
Die Rezitation war zu Ende.
Die große, von Säulen getragene Halle, die den
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