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Das Licht von Shambala

Das Licht von Shambala

Titel: Das Licht von Shambala Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Kleinkind gesehen, an der Seite einer Frau, die man mahasiddha nannte, was im Sanskrit eine von göttlicher Weisheit erleuchtete Person bezeichnete. Als Pilgerin war Mahasiddha mit ihr durch das Land gezogen, fortwährend auf der Suche nach etwas, das Sarah weder begriff noch ganz erfassen konnte, und schließlich hatte ihre Suche sie nach Norden geführt, über die Grenze nach Tibet.
    Die Erkenntnis, dass Sarah vor langer Zeit schon einmal auf dem Dach der Welt gewesen war, bestürzte sie in keiner Weise; vielmehr war es eine plausible Erklärung dafür, weshalb ihr manches vertraut erschien und sie sich dem Land und seinen Menschen verbunden fühlte. An einem entlegenen Ort, bewacht vom Auge des Zyklopen, hatte ihre Pflegemutter ihr Wissen und ihre Erinnerungen auf Sarah übertragen wollen, doch Diener der Bruderschaft hatten ihr Versteck ausfindig gemacht und sie überfallen.
    Das Ritual des pho-wa, das die Greisin mit ihr hatte durchführen wollen, war jäh unterbrochen worden, als die Schergen des Feindes in die Halle eindrangen, und das Bild Mahasiddhas, die im Kugelhagel starb, stand Sarah noch immer schrecklich vor Augen, ebenso wie das der Zyklopen, die sich den Eindringlingen todesmutig entgegenstellten. Einer von ihnen, Polyphemos, nahm sie bei der Hand und flüchtete mit ihr aus der Festung, die einsam auf einem Berggipfel thronte. Über mehrere Tage hinweg flohen sie durch Schnee und Eis, im Bestreben, den Shipki-Pass zu erreichen und nach Indien zu entkommen. Doch ihre Feinde folgten ihnen und holten sie ein, und wäre da nicht ein Brite namens Gardiner Kincaid gewesen, der zur rechten Zeit am rechten Ort war, so hätte die Bruderschaft wohl an diesem kalten Frühsommertag des Jahres 1865 einen endgültigen Sieg davongetragen.
    Aber Gardiner hatte noch ungleich mehr getan.
    Nicht nur, dass er in den Kampf eingriff, er brachte Sarah auch in Sicherheit, gab ihr ein Heim und eine Familie, und obwohl sie ihn aufrichtig geliebt und noch bis vor wenigen Monaten für ihren leiblichen Vater gehalten hatte, begann sie erst jetzt zu erahnen, was er tatsächlich geleistet hatte. Denn von jenem Tag an war er ein Teil von etwas gewesen, dessen wahre Ausmaße er zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen konnte, und als er es schließlich doch tat, jagte es ihm solche Angst ein, dass er entschied, Sarah dürfe nie etwas davon erfahren.
    Polyphemos' Rat folgend, verabreichte er ihr das Wasser des Lebens, freilich ohne zu wissen, wie es richtig gehandhabt wurde. Daraufhin war sie vom Dunkelfieber befallen worden, und es hatte eines Arztes namens Mortimer Laydon bedurft, sie davon zu heilen. Gardiner hatte alles unternommen, um sie zu schützen - aber von diesem Augenblick an war ihr Schicksal mit dem der Bruderschaft untrennbar verbunden gewesen.
    Die ganze Zeit über hatte sie gerätselt, was die Stimmen bedeuteten, die sie im Schlaf hörte, sich unzählige Male den Kopf darüber zerbrochen, wofür die verschwommenen Bilder stehen mochten, die sie im Traum vor Augen hatte. Nun endlich wusste sie, dass sie der Nachhall jener Ereignisse waren, die vor zwanzig Jahren stattgefunden hatten. Die Erkenntnis war beruhigend und erschreckend zugleich, aber sie stürzte Sarah nicht in Panik; es überwog die Erleichterung darüber, endlich zu wissen, was damals geschehen war.
    Sie bemerkte, dass der Abt sie noch immer erwartungsvoll anschaute, und sie erinnerte sich, dass er ihr eine Frage gestellt hatte. »Besser«, versicherte sie. »Es ist seltsam, nach so vielen Jahren festzustellen, wer man ist.«
    »Die meisten Menschen fristen ihr Leben, ohne es jemals zu erfahren, Mahasiddha«, entgegnete Ston-Pa. »Insofern könnt Ihr Euch glücklich schätzen.«
    »Wie nennt Ihr mich?«
    »Mahasiddha«, entgegnete der Abt ebenso ernst wie respektvoll, wobei er das Haupt leicht neigte. »Denn auch Ihr seid erwacht, als das Wissen der Greisin auf Euch überging.«
    »Dann denkt Ihr, dass jene Greisin eine der Ersten war?«
    »Nicht in ihrer körperlichen Erscheinung«, schränkte der Abt ein, »aber indem sie deren Wissen und Erfahrungen in sich trug. Am Beispiel von el-Hakim habt Ihr gesehen, dass es möglich ist, dergleichen Dinge weiterzugeben.«
    »Aber das pho-wa wurde nicht beendet«, wandte Sarah ein. »Wir wissen also nicht, wie viel von ihrem Wissen auf mich übergegangen ist und ob ich in der Lage bin, die Pforte zu öffnen.«
    »Das ist wahr«, sagte eine Stimme, die aus der Dunkelheit drang. Hieronymos, der dem Ritual schweigend

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