Das Licht von Shambala
gewöhnlich Vergnügen.« Ihre Mundwinkel fielen verächtlich herab. »Du jedoch hast mich die ganze Zeit über gelangweilt.«
Es lag so viel Gift in ihrer Stimme, dass er sich fragte, was er getan haben mochte, um derart gehasst zu werden, aber auch darauf fiel ihm keine Antwort ein.
»Wäre es nach mir gegangen«, fuhr sie fort, »wäre dies der Zeitpunkt gewesen, an dem dein jämmerliches Leben geendet hätte. Du hast deine Schuldigkeit getan und wirst nicht länger gebraucht.«
»Dein ›Großmeister‹«, erwiderte Kamal, wobei er allen Spott in das Wort legte, zu dem er noch fähig war, »ist anderer Ansicht.«
»In der Tat«, bestätigte sie ungerührt, »deshalb sollst du leben. Allerdings wirst du keine Gelegenheit haben, dich daran zu erfreuen, denn von nun an wirst du keine Essensrationen mehr bekommen. Du wirst das Wasser trinken, das sich auf dem Grund deiner Zelle sammelt, und vielleicht wirst du früher oder später anfangen, an jenen Knochen dort zu nagen. Aber sie werden dir keine Nahrung spenden, und darüber wirst du langsam den Verstand verlieren, bis du elend zugrunde gehst.«
Entsetzen packte ihn, trotzig schüttelte er den Kopf. »Das kannst du nicht tun!«
»Da hast du recht«, bestätigte sie zu seiner Verblüffung. »Es wäre nicht angemessen, angesichts der körperlichen Intimität, die wir beide zusammen hatten. Ich werde dir also dies hier geben«, fügte sie hinzu und warf etwas in die Zelle, das vor ihm auf den Boden fiel.
Ein Strick ...
»Mir mag der Großmeister verboten haben, dich zu töten«, erklärte sie, »aber wenn du von eigener Hand aus dem Leben scheidest, trage ich keine Schuld daran.«
»Hexe«, knurrte Kamal. »Unbegreifliche, widerwärtige Hexe!«
»Ich nehme das als Kompliment.«
»Was habe ich nur verbrochen, um das zu verdienen?«
»Sehr einfach«, beschied sie ihm, »du hast die falsche Frau geliebt. Und nun entschuldige mich. Anders als dich erwartet mich eine vielversprechende Zukunft.«
Damit wandte sie sich ab und wollte gehen, ohne ein Wort des Bedauerns oder auch nur des Abschieds.
»Sarah!«, rief er ihr fassungslos hinterher.
Wider Erwarten kehrte sie noch einmal an den Rand der Öffnung zurück und schaute mit einem Blick auf ihn herab, den er nie vergessen würde. Ungeduld lag darin, aber auch tiefer Schmerz.
»Du Narr hast es noch immer nicht begriffen, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf, und für einen Moment war ihm, als könnte er im Fackelschein eine Spur von Bedauern auf ihren Zügen erkennen. »Mein Name ist nicht Sarah. Er ist es nie gewesen ...«
6.
K LOSTER T IRTHAPURI
M ORGEN DES 15. J UNI 1885
»Nun? Wie fühlt Ihr Euch?«
Sarah schlug die Augen auf, aber ihr war nicht, als ob sie erwachen würde. Vielmehr kam es ihr vor, als wäre sie noch niemals zuvor in ihrem Leben aufgeweckter und klareren Verstandes gewesen als im Zustand der Trance, in die Abt Ston-Pa und seine Mitbrüder sie versetzt hatten.
Wie viel Zeit vergangen war, wusste Sarah nicht. Noch immer saß sie auf dem mit Teppichen beschlagenen Boden der Versammlungshalle, aber es fiel kein Mondschein mehr durch das hohe Fenster, sondern fahles Tageslicht, und ein bewölkter Himmel war zu erkennen. Sarah schaute sich um, nahm jedoch weder den Abt bewusst wahr, der ihr gegenübersaß, noch die übrigen Mönche, die sie in einem weiten Kreis umlagerten, um, wie er erklärt hatte, die Energien zu verstärken und das trong-jug zu erleichtern.
Anfangs war es Sarah schwergefallen, ihren Geist gegenüber Fremden zu öffnen. Maurice du Gard hatte sie sich hin und wieder anvertraut, Meister Ammon und natürlich Kamal, aber es waren stets nur einzelne Gedanken gewesen, Splitter ihres Bewusstseins. Jemandem Zugang zu seinem innersten Selbst zu gewähren, bedeutete, ihm seine Ängste und Sehnsüchte zu offenbaren und sich auf eine Art und Weise zu entblößen, die selbst körperliche Nacktheit bei Weitem übertraf. Entsprechend hatte sich Sarah anfangs nach Kräften dagegen gewehrt, aber je beruhigender der Abt auf sie eingesprochen hatte und je tiefer sie in Trance gesunken war, desto geringer war ihr Widerstand geworden. Und indem sie ihn schließlich ganz aufgab, waren die Schleier, die bis zu diesem Augenblick noch über ihrer Vergangenheit gelegen hatten, verschwunden, und grelles Licht hatte die Dunkelzeit erleuchtet!
Sarah wusste nun alles, sie erinnerte sich - und plötzlich fügten sich die Dinge wie von selbst zusammen.
Sie hatte sich selbst als
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